Drei Minuten mit der Wirklichkeit
ronde de jambe, adagio
…
pirouette
zu einer langen vierten Position. Sie fühlte sich unwohl. Sie bemerkte die neugierigen Blicke der anderen Tänzerinnen. Warum ließ er ausgerechnet sie diesen Schritt vormachen? würden sie sich fragen. Warum sie, diese Neue? Warum nicht ich?
»Hier. Stopp.« Van Driesschen kam auf sie zu. »Hast du das, Theresa, was steht in deinen Notizen?«
»Genau das, was sie gemacht hat. Du bist nur etwas monoton, Giulietta. Als hättest du ein Brett über dem Kopf.«
»Genau!«, rief van Driesschen. »Das ist es. Warum sieht das besser aus?«
Maggie verzog das Gesicht. »Wieso besser aussehen. Es ist falsch.«
»Die Notierung sagt …«, warf Theresa ein.
Aber van Driesschen unterbrach sie. »Nix Notierung. Hier, Giulietta, mach das noch mal. Tam … dara tam tam … tam … ja, genau … seht ihr …«
Sie wiederholte die Bewegung und hielt dann inne. Die Situation war ihr peinlich. Sie hatte nicht aufgepasst. Natürlich konnte sie aus einer
pirouette
in eine lange vierte Position gehen, ohne dabei die Höhe zu verändern. Aber das war keine Ballett-Attitüde. Es war Tango. Und was sie hier tanzen sollte, war kein Tango, sondern ein Tango-Ballett. Sie hatte sich nicht konzentriert. Wie so oft in den letzten Wochen. Alles um sie herum verschwand hinter dieser Musik, in diesen Erinnerungen.
»Nein. Nicht so«, rief er jetzt. »So wie vorher.«
Sie begann die Sequenz erneut und fühlte eine gewisse Genugtuung. Diese ganze Choreografie war zerrissen. Sie hatte nur zwei Takte lang das
en dehors
gebrochen und dafür das Grüblerische, Introvertierte der Musik zugelassen, und die Wirkung war sofort sichtbar gewesen.
»Woher hast du diese Idee?«, fragte Heert. »Wie kommst du darauf?«
Giulietta zuckte mit den Schultern.
Maggie Cowler sah überhaupt nicht zufrieden aus.
»Heert, du weichst vom Original ab«, sagte sie.
»Original, Original. Ich mag diese Bewegung. Hol die anderen. Ich will das in der Gruppe sehen. LES ENFANTS …«
Van Driesschen ließ beide Versionen tanzen. Das Auf und Ab der Köpfe zwischen den Positionen erzeugte eine Oberflächlichkeit in der Bewegung, die in krassem Gegensatz zur Musik stand. Die Korrektur änderte das schlagartig. Die verhaltene Ruhe der Seitwärtsbewegung gab dem ganzen Bild plötzlich Spannung. Der Vorfall trug Giulietta jede Menge Argwohn ein. Die finster dreinblickende, nägelkauende Enska am Rand des Saales war nur der sichtbarste Ausdruck davon.
»Du kannst das nicht machen«, sagte Maggie.
»Warum?«
»Weil es falsch ist. Was das Mädchen tanzt, hat nichts mit Ballett zu tun. Theresa, was steht in den Notizen?«
»Sie hat Recht, Heert.«
Er unterbrach sie unwirsch. »Darüber reden wir nachher.«
2
T age. Wochen.
Die Welt war nach jenem fünften Dezember nicht stehen geblieben. Aber Giulietta hatte kein rechtes Zeitmaß mehr. Sie konnte sich die nachfolgenden Ereignisse in Erinnerung rufen, spürte jedoch nichts dabei. Sie hatte stundenlang wie betäubt in Lindseys Zimmer gelegen. Wie in einem Traum war irgendwann ihr Vater dort aufgetaucht, völlig aufgelöst vor Sorge und dann so erleichtert, sie unversehrt wieder gefunden zu haben, dass er ihr keinerlei Vorwürfe machte. Wie er sie gefunden hatte, wusste sie nicht mehr. Hatte sie Lindsey gesagt, in welchem Hotel er möglicherweise anzutreffen war? Dann der Rückflug, ihre Mutter am Flughafen, ein Tag, ein Abend und eine Nacht in Zehlendorf in ihrem alten Zuhause, in ihrem ehemaligen Kinderzimmer mit dem Poster von Nurejew und Margot Fonteyn. Ihre Eltern schlichen um sie herum, brachten jedoch keinerlei Einwände vor, als sie am nächsten Tag darauf bestand, in ihre Wohnung zurückzukehren. Sie wollte allein sein.
Irgendwie ging diese Jahreszeit mit ihren verfluchten Feiertagen vorüber. Sie übte in einem Studio in Charlottenburg und vertrieb ihre düsteren Gedanken mit Pilates-Training. Da sie ohnehin um sechs Uhr aufwachte, begann sie den Tag mit zwanzig Bahnen im Spreewaldbad und war bereits fertig, bevor die ersten Studenten zum Duschen erschienen. An ihrem Geburtstag luden Aria und Xenia sie zum Abendessen in ein neu eröffnetes französisches Restaurant am Lausitzer Platz ein. Um sie herum tafelte das neue Berlin. Man hörte süddeutsche Akzente und Gespräche über Aktien und Börsengänge. Giulietta verschwieg, was in Buenos Aires geschehen war, und weder Xenia noch Aria fragten genauer nach. Giuliettas Männergeschichten waren noch nie sehr ergiebig
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