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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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daran und honorierte die Vorführungen mit lebhaftem Applaus. Giulietta konnte dem Spektakel nicht viel abgewinnen, blieb aber dennoch sitzen, denn es berührte sie, mit anzusehen, wie trotz der grotesken Entstellung in dieser Art von Touristentango noch etwas von dem hindurchschimmerte, was einmal der ursprüngliche Antrieb dieses Tanzes gewesen sein musste: die unerfüllbare Sehnsucht nach dem anderen. Und so etwas taugte nun mal nicht für die Bühne. Es hatte etwas Obszönes, etwas Skandalöses. Nicht der Tanz selbst, der ja nur dieser Sehnsucht Ausdruck verlieh. Eine Sehnsucht war nie obszön. Obszön waren die Betrachter, die Zuschauer. Es war der Blick der Ausgeschlossenen, derjenigen, die durch ihre voyeuristische Erwartungshaltung aus etwas Natürlichem etwas Exotisches machten, es mit ihrer Geilheit aufluden und dadurch zerstörten. Es war der Blick des angeblich Zivilisierten auf den so genannten Wilden, des Herrschers auf die Kolonie, des Europäers auf den Rest der Welt.
    Der Blick des Publikums auf den Tänzer.
    Sie dachte an Damián, wie er sich vor einigen Jahren das Gesicht schwarz gefärbt hatte, bevor er auf die Bühne ging. Sie wunderte sich selbst darüber, dass ihr die Erinnerung ein Lächeln abrang. War dies nicht ein wunderbares Bild für den Umstand, dass im Tango selbst die Verstellung verstellt worden war, in dieser Musik, die unablässig vor sich selbst auf der Flucht zu sein schien, in gehetzten Synkopen und jaulenden Läufen. Und wenn es stimmte, was Lindsey gesagt hatte, dass bereits der erste Tango, der jemals getanzt wurde, eine Travestie gewesen war, der Versuch der Weißen, wie die Schwarzen zu sein, ohne schwarz zu sein, ein Raub und eine Verfälschung, damit niemand den Ursprung erkennen möge, war es da nicht rührend mit anzusehen, wie sich die Enkel der Räuber im Kitsch ihrer eigenen Projektion bespiegelten, völlig blind für die wenigen Stellen, wo der falsche Lack abgeblättert war und der Zauber des Originals durchschimmerte?
    Lindsey. Ob sie jetzt allmählich aufgestanden sein würde? Es war halb zwölf. Dann streifte ihr Blick das Fernsehgerät, das über der Bar von der Decke hing. Der Ton war heruntergedreht, und sie hätte ohnehin kein Wort verstanden. Aber die Bilder!
    Sie erstarrte. Die Meldung bestand aus vier Schnitten. Die erste Sequenz zeigte Fernando Alsina umringt von Journalisten, das Gesicht ernst, sehr ernst. Sein Kopf verschwand bisweilen hinter Mikrofonen und Kameras. Er beantwortete Fragen. Dann wandte er sich abrupt ab.
    Schnitt.
    Ein Journalist stand unter einem unfertigen Autobahnstück. Hinter ihm stiegen schwarze Rauchwolken auf. Man hörte Sirenen und sah das Blitzen von Blaulicht. Der Journalist deutete in die Höhe und die Kamera fuhr langsam an einem Betonpfeiler nach oben, um am oberen Ende einen unfertigen Straßenstummel mit einigen herausragenden Eisenträgern zu zeigen. Die Kamera verweilte jedoch nicht lange dort, sondern glitt in schneller Fahrt wieder hinab und erfasste ein schwelendes Autowrack, das offensichtlich von dieser unfertigen Rampe herabgestürzt und in Brand geraten war. Starker Wind trieb schwarzen Qualm direkt auf die Kamera zu. Die Stimme des Journalisten wurde unterbrochen.
    Schnitt.
    Großaufnahme von Frau Alsina, die soeben in ein Auto einstieg, das sogleich losfuhr.
    Schnitt.
    Ein Nachrichtensprecher erschien und sprach einige Sätze. Dazwischen wurde noch einmal kurz Fernando Alsina eingeblendet, der sich von den Mikrofonen und Kameras abwandte. Dann wechselte das Hintergrundbild.
    Schnitt.
    Großflächige Überschwemmungen.
    Giulietta lief los. Sie drängelte sich zwischen den Flohmarktbesuchern durch, erreichte die Calle Defensa, rannte unter der Autobahnbrücke entlang und wäre an der Kreuzung zur Calle Cochabamba fast gestürzt. Die Hitze machte ihr zu schaffen. Und der Gestank. Alles hier stank. Die Abgase. Der Müll. Was um Gottes willen war geschehen? Die Alsinas in den Nachrichten? Ein verbranntes Auto? Heute Morgen?
    Damián?
    Sie klingelte und klopfte gleichzeitig gegen die Tür mit den vielen Schlössern. Das Bild des schwelenden Autos. Gestern am Flughafen. Der Benzingeruch in seinem Wagen. An ihm. El loco.
    » LINDSEY !« Sie schrie jetzt.
    Endlich hörte sie ein Geräusch an der Innenseite der Tür. »Bitte nicht. Bitte nicht das«, flüsterte sie still, die Hände zusammengekrallt, während ein Bolzen nach dem anderen geräuschvoll zurückglitt.
    »Giulietta?«
    Sie sah es gleich an ihrem

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