Drei Minuten mit der Wirklichkeit
nannte dem Fahrer das Hotel ihres Vaters. Wenn er nicht abgeflogen war, so würde sie ihn dort antreffen. Auf halber Strecke änderte sie jedoch ihre Absicht und nannte Lindseys Adresse. Die sonntägliche Leere der Stadt rief ihr den Tag ihrer Ankunft in Erinnerung. Seltsamerweise schienen die Erinnerungen an den Sonntag der vergangenen Woche klarer und gegenwärtiger als das, was draußen an ihr vorübertrieb. Nichts von dem, was sie sah, berührte sie wirklich. Ihre Empfindungen und Eindrücke waren taub. Als erlebte sie alles nur gedämpft durch eine Membrane. Sie sah vereinzelt einen Jogger und hier und da einen Blumenverkäufer, der seine Ware um einen grün gestrichenen Wellblechkiosk arrangierte. An einer Straßenecke saß ein kleiner Junge auf einem Hocker und bündelte Jasminblüten zu kleinen Sträußen. Tango und Jasmin. Allgegenwärtig in dieser Stadt.
Wo war er bloß hingegangen? Warum hatte er sie am Flughafen abgepasst? Warum diese Nacht? Warum? Warum? Sie spielte nervös mit ihrer verkürzten Haarsträhne und stellte sich vor, wie seine Hand über ihrem schlafenden Gesicht geschwebt haben musste, eine Schere in den Fingern. Eine Schere? Sie hatte keine Schere gesehen. Trug er eine Schere mit sich herum? Ein Messer? Ein Messer, nur wenige Zentimeter von ihrem schlafenden Gesicht entfernt. Wie hatte sie so tief schlafen können?
Dann stand sie vor Lindseys Haustür und wagte nicht, zu klingeln. Sie ließ sich auf dem gegenüberliegenden Bordstein nieder, genoss die Sonnenstrahlen, die von Minute zu Minute intensiver wurden, betrachtete jede Einzelheit der heruntergekommenen Straße von San Telmo und fühlte trotz allem plötzlich eine gewisse Verbundenheit mit dem Ort. Sie verstand die Stadt nicht, auch nicht ihre Bewohner und ihre komplizierten Geschichten. Und recht besehen verstand sie auch diese Musik nicht wirklich. Tango? Sie hätte nicht sagen können, was das war. Aber angesichts der armseligen Straße vor ihr fielen ihr jetzt Melodien ein, die sie gehört hatte, und sie klangen plötzlich anders. Die Morgensonne, der Geruch der Luft, die kaputten Fassaden, die herunterhängenden Stromleitungen, das Gespensterheer der ineinander verkrallten Gestalten in den schummerigen Bars – all die gegenwärtigen und vergangenen Eindrücke gaben auf einmal einen anderen Resonanzboden für die Musik ab. Sie würde keine Zeit mehr haben, herauszufinden, woraus er bestand. Vielleicht war das auch gar nicht möglich. Aber sie hörte Tango plötzlich anders. Sie hörte Tango, ohne dass ein einziges Instrument erklingen musste. Wie hatte Lindsay gesagt? Diese Stadt tätowiert einen von innen. Sie dachte an die Zeile in jenem Lied, das Damián in Berlin für seinen letzten Tango gewählt hatte: …
und knie nieder an meinen schmutzigen und schönen Rio de la Plata und kratze mir aus Schlamm und Salz ein neues unermüdliches Herz zusammen
… Sie hatte kein neues Herz. Aber etwas in ihr hatte sich unwiderruflich verändert. Auch wenn sie nicht hätte sagen können, was.
31
S ie beschloss, dass es zu früh war, Lindsey zu wecken, und spazierte die Calle Cochabamba bis zu der Stelle hinauf, wo sie die Calle Defensa kreuzte. In der Entfernung sah man von hier schon die Marktstände der Plaza Dorrego. Die meisten Stände waren um diese frühe Uhrzeit noch zugedeckt. Die Händler standen in kleinen Grüppchen beieinander, ließen ausgehöhlte Kürbisse herumgehen, aus denen sie abwechselnd ihren Mate saugten. Giulietta schlenderte zwischen den Ständen durch, kaufte ein billiges weißes T-Shirt, das sie sogleich überzog, um ihre zerrissene Bluse nicht länger mit der Hand zusammenhalten zu müssen, und steuerte dann auf das einzige Café zu, das bereits geöffnet hatte. Sie bestellte Kaffee und die drei obligaten
Medialunas
, tauchte die Halbmond-Hörnchen in das dampfende Getränk ein und beobachtete versonnen, wie der Flohmarkt sich ganz allmählich zu beleben begann. Sie hatte alle Zeit der Welt. Heute war der fünfte Dezember. Sie hatte ihr Leben gegen eine Mauer gefahren. Irgendwie würde es schon weitergehen. Sie dachte an ihren Geburtstag. In zwei Wochen würde sie zwanzig Jahre alt.
Die Stunden vergingen. Sie trank noch einen Kaffee. Der Platz füllte sich allmählich mit Touristen. Die ersten Tanzpaare tauchten auf und gaben ihre Tango-Nummern zum Besten. Obwohl manche der Tanzpaare ganz passabel zusammen aussahen, wirkten alle Darbietungen ordinär und geheimnislos. Das Publikum störte sich nicht
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