Drei Minuten mit der Wirklichkeit
denen ihr Verstand ängstlich zurückwich. Sie hätte es geschehen lassen. Ja, wenn sie sich recht besann, hatte sie ihn sogar gebeten fortzufahren, nicht aufzuhören. Doch er hatte innegehalten, irgendwann die Grenze, die sie fast überschritten hätten, nicht noch einmal mehr aufgesucht und stattdessen die ursprüngliche Zärtlichkeit wieder gesucht. Das war schon spät in der Nacht gewesen. Ihr Körper fühlte sich zerschmettert an. Sie lag eng an ihn geschmiegt auf der mittlerweile ausgeklappten Couch unter der wärmenden Decke und lauschte seinen Atemzügen. Sie spürte, wie seine Brust sich hob und senkte, vernahm seinen Herzschlag und verfiel in einen tiefen Schlummer.
30
S ie erwachte allein. Der Platz neben ihr war leer und kalt. Sie tastete im Halbdunkel nach ihrer Armbanduhr, die irgendwo auf dem Boden liegen musste. Vier Uhr dreißig. Sie lauschte in die Stille. »Damián?«, sagte sie einmal. Aber es kam keine Antwort. Sie legte sich wieder hin, verkroch sich unter der Decke, als befürchte sie ein Echo. Sie roch nach ihm. Er war überall auf ihr und in ihr. Wo war er nur hingegangen? Um diese Zeit. Würde er gleich zurückkommen? Warum hatte sie ihn nicht gehört?
Sie fuhr hoch und stellte benommen fest, dass sie noch einmal eingeschlafen war. Aber sie war noch immer allein hier. Ein erster Lichtstreifen erschien draußen vor dem Fenster. Und im Zwielicht des beginnenden Tages erkannte sie auch, dass alles, was sie bisher erlebt hatte, noch gar nicht das Schlimmste gewesen war: der Koffer und die Reisetasche waren verschwunden. An ihrer Stelle lag der weiße Bademantel zusammengeknüllt auf dem Boden. Sie glitt aus dem Bett und suchte nach einem Lichtschalter. Die Glühbirne an der Decke warf ein kaltes Licht auf den unwirtlichen Raum. Im Bad waren keinerlei Gegenstände von ihm zurückgeblieben, mit Ausnahme eines gebrauchten Einwegrasierers und eines Handtuchs, das über den Wannenrand geworfen war. Sie kehrte zur Couch zurück, ließ sich darauf nieder, starrte auf ihre zum Teil zerrissenen, auf dem Boden verstreut herumliegenden Kleidungsstücke. Welch eine bedrückende Stille!
Sie trat ans Fenster und blickte über die Stadt. Die ersten Sonnenstrahlen legten hier und da einen goldenen Glanz auf die Dächer und Fassaden. Am Horizont schimmerte das glitzernde Band des Rio de la Plata. Sie schob das Fenster zur Seite, trat auf die winzige Terrasse hinaus und schaute in die Tiefe. Die Balustrade war sehr hoch, und sie musste sich strecken, um überhaupt hinunterschauen zu können. Sie roch die warme Luft, das unbestimmbare, samtige Aroma dieser Stadt. Ein Sonnenstrahl warf einen gelben Fleck neben ihr auf die Mauer, und sie hielt ihre Hand darauf, erfreut über die Wärme, die sie dabei spürte. Dann kehrte sie in das Zimmer zurück und suchte ihre Sachen zusammen. Es war vorbei. Nichts war erklärt, aber jetzt war alles zu Ende. Ein diffuses Gemisch aus Gedanken und Erwägungen staute sich in ihrem Kopf zusammen. Während sie ihre Kleider zurechtlegte, überlegte sie, wie sie mit der halb zerissenen Bluse durch die Stadt gelangen und wohin sie überhaupt gehen sollte. Sie duschte heiß, ließ die Badewanne voll laufen, lag dann rücklings im heißen Wasser, hielt den Kopf fast gänzlich untergetaucht und hörte auf das Rauschen in ihren Ohren.
Erst als sie vor dem Spiegel stand und ihre nassen Haare auskämmte, sah sie, was er getan hatte. Sie dachte zunächst, die Strähnen hätten sich zerzaust. Sie ließ den Kamm mehrmals an der gleichen Stelle durch ihr Haar gleiten, aber es gab keinen Zweifel: es fehlte eine Locke. Nein, keine Locke. Ein ganzer Haarstrang war abgeschnitten. Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff. Er hatte ihr im Schlaf diesen Strang Haare abgeschnitten! Sie wich vom Waschbecken zurück und ließ den Kamm fallen. Dann war sie mit zwei Sätzen im Zimmer, zog hastig ihre Kleider an, arrangierte ihre Bluse und Strickjacke, so weit es eben ging, und verließ, so schnell sie konnte, die Wohnung. Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Fahrstuhl kam. Das Haus war totenstill. Sie begegnete niemandem, weder im Fahrstuhl noch in der Eingangshalle.
Sie hatte keine Ahnung, in welche Richtung sie gehen musste, um ein Taxi zu bekommen. Die Straßen waren wie ausgestorben. Es war Sonntag. Der Tag ohne Menschen. Dennoch dauerte es nicht lange, bis einer der unzähligen gelb-schwarzen Wagen sie gefunden hatte. Diese Taxis waren wie Wespen, dachte sie noch. Sie fanden jegliche Nahrung.
Sie
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