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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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gewesen. Später schleppten sie sie durch irgendwelche Clubs, wo sie bis drei Uhr morgens herumhingen. Giulietta beobachtete, was um sie herum geschah, wie durch einen Nebel. Immer wieder glitt sie in Gedanken ins Almagro, sah sich in der Confitería Ideal, während vor ihren Augen hoch gewachsene, teuer gekleidete Männer mit eleganten jungen Frauen plauderten. Ohne sich erinnern zu können, wie es gekommen war, fand sie sich irgendwann im Gespräch mit einem dieser Männer wieder. Er hieß Arne, war aus Düsseldorf und erklärte ihr eine halbe Stunde lang, warum Berlin das Zentrum für Internet Web Design sei. Er schlug vor zu tanzen, und als sie dies ablehnte, brachte er ihr unaufgefordert ein Glas Champagner, das sie zur Hälfte trank. Kurz darauf fragte er, ob sie nicht Lust hätte, mit zu ihm zu kommen. Sie schüttelte den Kopf, machte ihren Freundinnen ein Zeichen und bestellte sich ein Taxi.
    Später im Bett biss sie ihren Handknöchel blutig.

3
    I m Nachhinein erschien ihr alles, was ihr Vater getan hatte, logisch und nachvollziehbar. Er hatte sich wie ein eifersüchtiger Liebhaber verhalten. Aber viel mehr konnte sie ihm nicht vorwerfen. Er hatte sich Sorgen um sie gemacht und deshalb noch von Berlin aus Damiáns Eltern ausfindig gemacht.
    »Und dann hast du sie angerufen?«
    »Ja.«
    »Wann?«
    »Am Samstag.«
    »Mit wem hast du gesprochen?«
    »Mit Herrn Alsina.«
    »Und was hast du ihm gesagt?«
    »Dass wir beunruhigt waren, weil du einfach Hals über Kopf nach Argentinien geflogen warst und wir keine Ahnung hatten, wie wir dich erreichen konnten. Ich bat sie, Damián auszurichten, dass du auf dem Weg seist.«
    »Hast du Herrn Alsina alles erzählt?«
    »Nein.«
    »Was hast du ihm gesagt?«
    »Dass ihr euch hier getroffen habt, dass es einen Streit gab und du ihm hinterhergereist bist, ohne uns irgendetwas gesagt zu haben. Sie waren sehr verständnisvoll.«
    »Und wann hast du Frau Alsina getroffen?«
    »Am Donnerstag.«
    »Warum?«
    »Ich habe mir furchtbare Sorgen gemacht. Du wolltest Damián am Abend treffen. Ich hatte Angst um dich. Verstehst du das nicht?«
    Frau Alsina hatte nicht erwähnt, dass ihr Vater aus Berlin angerufen hatte. Warum hatte sie ihr das verschwiegen?
    »Und wieso kannst du Spanisch?«
    »Kann ich gar nicht. Nur ein paar Brocken. Aus der Schulzeit.«
    Aus der Schulzeit. Als Markus Battin noch Markus Loess hieß.
    »Warum hast du damals nach der Übersiedlung eigentlich deinen Namen geändert?«
    »Das haben viele getan, die in meiner Situation waren. Man konnte nie wissen, ob man verfolgt wurde und ob die es sich nicht noch mal anders überlegen würden.«
    »Die?«
    »Horch und Guck. Die Stasi.«
    »Aber du warst doch im Westen. Freigekauft.«
    »Na und? Es wurden doch immer wieder Leute entführt. Die Stasi war überall. Auch im Westen.«
    »Und warum Battin?«
    Er antwortete nicht.
    »Papa. Warum hast du dich Battin genannt?«
    »Was? Ach so. Der Nachname, meinst du. Ich weiß nicht mehr genau. Das ist so lange her. Die legen dir da irgendwelche Listen vor. Ich habe einfach etwas ausgewählt, das nichts mit mir zu tun hat. Es klang so neutral.«
    Neutral.

4
    M anchmal wachte sie nachts auf und hörte die Stille. Sie konnte arbeiten und trainieren, so viel sie wollte, sie fand keinen Schlaf. Sie verbrachte einen ganzen Sonntag damit, ihre Möbel umzustellen und Bilder umzuhängen. Sie sortierte Kleidungsstücke aus, die sie an ihn erinnerten, brachte sie zum Stoffcontainer und ging dann stundenlang in Berlin spazieren. Drei Tage vor dem Vortanztermin an der Deutschen Oper fand sie einen Paketschein in ihrem Briefkasten. Sie öffnete das Päckchen in der U-Bahn.
    Buenos Aires, 28. Dezember 1999
     
    Chère Giulietta,
    ich sitze zwischen gepackten Kisten. Mein Zimmer ist leergeräumt, alle Fotos sind von den Wänden verschwunden. In einer Ecke habe ich die Möbel gegeneinander geschoben, in einer anderen stehen meine Koffer und Kisten. Neben mir auf dem Schreibtisch liegen einige Dinge, die ich beim Aufräumen gefunden habe, ein paar Zeitungsausschnitte, die von Damiáns Unfall berichten. Es steht nicht viel darin, was Du nicht schon wüsstest. Wenn Du sie nicht haben willst, dann wirf sie weg. Ich habe es nicht gekonnt. Außerdem habe ich die Blätter noch, die wir damals voll geschrieben haben. Erinnerst Du Dich? Als wir erst den Mate und dann die Flasche Mendoza getrunken haben? Ich würde Dich jetzt gerne in den Arm nehmen. Bitte versteh das nicht falsch. Ich weiß, dass

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