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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Du noch leidest. Denn ich muss dauernd an Dich denken.
    Anbei Deine Videokassette. Die anderen beiden Bänder enthalten einen Zusammenschnitt aller Aufnahmen, die ich in meiner Sammlung von ihm gefunden habe. Du wirst Dir das jetzt nicht anschauen können. Aber irgendwann freust Du Dich vielleicht, die Aufnahmen zu haben. Möglicherweise sehen wir uns niemals wieder. Daher schicke ich Dir die Bänder, auch auf die Gefahr hin, taktlos zu erscheinen.
    Seit jenem Sonntagmorgen vor drei Wochen bin ich kein einziges Mal aus diesem Haus gegangen, ohne Dein entsetztes Gesicht vor mir zu sehen. Ich weiß nicht, was mich mehr erschreckt hat: Pablos Mitteilung am Morgen, dass Damián tödlich verunglückt war, oder Dein Erscheinen eine halbe Stunde später, Deine Stimme dort am Eingang.
    Es gibt hier seltsame Gerüchte um Damiáns Unfall. Was an jenem Sonntagmorgen im Dezember geschehen ist, weiß niemand genau. Du bist die Letzte, die ihn lebend gesehen hat. Manche Leute behaupten, es sei kein Unfall gewesen. Allerdings gibt es für diese ungeheuerliche Vermutung keinerlei Anhaltspunkte. Die Unfallstelle wurde genau untersucht. Alles weist auf einen Unfall hin – oder auf einen Selbstmord.
    Ich wünschte, ich hätte anderes zu berichten, aber ich wollte Dir diese Informationen nicht vorenthalten.
    Einen Trost habe ich nicht.
    Für ein Zeichen, und sei es noch so geringfügig, dass Du diesen Brief bekommen hast, wäre ich Dir dankbar.
    Ich umarme Dich in Gedanken
Lindsey
    Ihre Handschrift war nicht leicht zu entziffern. Sie betrachtete die Zeitungsausschnitte, die Fotos des ausgebrannten Autos, die Unfallskizzen. Die Bilder berührten sie nicht wirklich. Im Gegenteil. Die fremde Sprache, die unverständlichen Bildunterschriften und die anderen vermischten Meldungen auf der gleichen Seite rückten das alles in endlose Ferne. Nur als sie seinen Namen las, spürte sie einen Stich im Herzen. Sie nahm eines der drei Bänder aus dem Karton. II , 1998 stand auf dem Rücken des Schubers. Wie konnte Lindsey glauben, dass sie sich das jemals anschauen würde?

5
    V iviane betrachtete sie genervt, als sie im Büro erschien.
    »Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte sie in einem Tonfall, der das genaue Gegenteil auszudrücken schien.
    Dann wischte sie sich die schwarzen, strähnigen Haare aus dem Gesicht, ließ sich auf ihren Bürostuhl fallen und richtete folgenden unglaublichen Satz an sie:
    »Heert will, dass Sie an Stelle von Marina das Solo in
Libertango
tanzen.«
    Das war natürlich völlig verrückt.
    Im Nebenraum begann jemand, Schreibmaschine zu schreiben.
    »Warum sind Heert und Marina dann nicht hier?«, fragte Giulietta.
    »Das ist genau der Punkt«, sagte Viviane und rieb sich die Augen, als würde das Problem dadurch verschwinden. »Sie können sich vorstellen, was das bedeutet. Für mich. Für Sie. Trauen Sie sich das zu?«
    Giulietta schaute auf den Schreibtisch. Fax-Fahnen, Programmhefte, unsortierte Post.
    »Nein«, sagte sie dann.
    Viviane lehnte sich zurück und kaute an ihrem Kuli. »Ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein. Ich habe vor ein paar Tagen mit Frau Ballestieri zu Mittag gegessen.«
    Der Name der Balettdirektorin der Staatsoper ließ Giulietta innerlich steif werden. Sie hatte sich im Dezember telefonisch bei ihr zurückgemeldet, sich entschuldigt und von sich aus auf ihre Hospitanz verzichtet. Sie hatte ihre Seite der Abmachung nicht eingehalten und war statt einer fast zwei Wochen weggeblieben. Aber sie trug auch die Konsequenzen.
    »Von ihr werden sie nicht viel Gutes über mich gehört haben.«
    »Sie irren sich. Es tut ihr Leid, dass Sie gegangen sind. Ich habe natürlich nachgefragt, und sie hat mir gesagt, warum sie Sie entlassen musste.«
    Sie schwieg einen Augenblick.
    »Kann ich mich auf Sie verlassen, Giulietta? Sie sind jetzt Ensemblemitglied der Deutschen Oper. Das hier ist kein Praktikum, verstehen wir uns?«
    »Ja. Sie haben mein Wort.«
    Viviane Dubry, ehemalige Étoile-Tänzerin der Pariser Oper, sprach so mit ihr.
    »Jetzt zum Stück. Heert will, dass Sie an Stelle von Marina das Solo in
Libertango
tanzen. Haben Sie dafür eine Erklärung?«
    »Nein.«
    »Als Debütantin gegen eine erste Solistin ausgetauscht zu werden, kann Ihnen das Leben hier im Haus zur Hölle machen. Ich wäre bereit, mit Marina zu sprechen, aber ich kann nichts garantieren. Sie müssen selbst wissen, ob sie sich darauf einlassen wollen.«
    »Nein«, erwiderte Giulietta nachdrücklich. »Marina tanzt zehnmal besser als ich.

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