Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Ich will die Rolle nicht.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja.«
»Warum? Heert sagt, sie wären die Einzige, die diese Musik wirklich kapiert.«
»Das ist nicht wahr. Ich verstehe nichts davon.«
Viviane stand auf, ging um den Tisch herum und schloss die Tür, die das Büro mit dem Sekretariat verband. Das Geklapper der Schreibmaschine erstarb vollständig.
»Sie haben in den Proben eine Bewegung gemacht, die ihm aufgefallen ist, nicht wahr?«
»Ja. Ich war unaufmerksam.«
»Daraufhin hat er die Sequenz für die ganze Gruppe geändert.«
Giulietta schaute zu Boden und sagte nichts.
»Wissen Sie, was das bedeutet?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Sie wissen, von wem das Stück ist, nicht wahr?«
»Natürlich. John Beckmann.«
»Und Sie wissen auch, dass er nicht mehr am Leben ist.«
»Ja.«
»Das London City Ballet wacht über die Aufführungsrechte an der Choreografie. Maggie Cowler kontrolliert die Aufführungen. Wir dürfen an den Stücken nicht einmal eine Fingerkrümmung ändern. Deshalb ist Maggie Cowler hier. Jetzt haben Sie Heert mit Ihrem Tango-Stil einen Floh ins Ohr gesetzt. Und wissen Sie, was das Beste ist?«
»Nein.«
»Heert hat Maggie einfach umgangen und Beckmanns Lebensgefährten angerufen, der die Rechte geerbt hat. Er hat die Änderung genehmigt.«
»Das wusste ich nicht.«
»Aber wie kamen Sie auf die Idee?«
»Wegen der Musik. Ich habe eine Tango-Bewegung gemacht. Das ist alles … kann ich jetzt bitte gehen?«
»Sie tanzen Tango?«
»Nein.«
»Aber Sie sagen, Sie hätten eine Tango-Bewegung gemacht. Das heißt, Sie kennen sich damit ein wenig aus, oder?«
»Nein.«
»Giulietta, warum wollen Sie das Solo nicht tanzen?«
»Das ist meine Sache.«
»In der Tat.«
Viviane Dubry kehrte zu ihrem Stuhl zurück und setzte sich langsam. »Ihretwegen habe ich gestern einen Choreografen und eine Repetitorin davon abhalten müssen, ihre Zusammenarbeit hinzuschmeißen. Maggie Cowler hat die Aufgabe, über dieses Stück zu wachen, und Heert hat kein Recht, John Beckmanns Stück einfach zu verändern, schon gar nicht hinter Maggies Rücken. Heert hat gute Beziehungen zu Beckmanns Erben, sonst wäre er damit nicht durchgekommen. Aber was er getan hat, ist Maggie gegenüber nicht gerade fair, finden Sie nicht auch?«
Maggie! Diese frustrierte Ballett-Bürokratin!
Giulietta nickte stumm.
»Ich will nur, dass Ihnen klar wird, dass es hier Regeln gibt. Sie sollen während der Proben nicht improvisieren. Das provoziert manche Leute. Wenn Sie an Stelle von Marina das Solo tanzen, dann haben Sie außer Maggie auch noch Marina auf dem Hals. Ich rate Ihnen also, das mit Bestimmtheit abzulehnen. Auch wenn Heert Sie fragen sollte. Verstehen wir uns?«
»Ja.«
»Und keine weiteren Tango-Schritte.«
»Nein. Es tut mir Leid. Ich werde mich zusammenreißen.«
Giulietta ertrug dieses Gespräch nicht länger. Vielleicht sollte sie ganz aus diesem Projekt aussteigen. Diese verfluchte Musik. Was hatte diese Musik überhaupt in der Oper verloren? Im Ballett?
»Kann ich jetzt bitte gehen?«
Statt einer Antwort traf sie der Blick dieser Frau. Viviane musterte sie neugierig. Es schien, als habe sie noch viele Fragen, aber nach einem kurzen Moment nickte sie nur wortlos und wies ihr mit der rechten Hand die Tür.
6
D ie Proben für Tango-Suite erschienen ihr als eine regelrechte Durchhalteprüfung. Diese Musik hatte hier nichts verloren. Beckmann mochte von Piazzolla beeindruckt gewesen sein, aber er hatte nichts von dieser Musik begriffen. Die Figuren passten einfach nicht dazu.
Sie studierte den Probenplan für die vier Teile.
I.
Tres minutos con la realidad
(Gruppe)
II .
Libertango
(Gruppe mit Solo)
Novitango
(Solo)
III .
Cite Tango
(Zwei Paare)
Michelangelo ’70
(Gruppe)
IV .
Mumuki
(Gruppe mit Solo)
Sie war für eine Gruppenrolle in Teil eins und vier vorgesehen. Bei den Proben für die Solopartien des zweiten Teils stand sie mit den anderen am Saalrand und schaute Marina Francis zu. Die Australierin war ausgezeichnet. Giulietta bewunderte sie grenzenlos. Aber Heert quälte sie dennoch. Er wollte sie in eine Richtung drängen, die ihr nicht lag.
»Nimm diese Grazilität raus«, rief er immer wieder. »Schwerer! Tiefer!« Er mimte die Bewegung, wie er sie sich vorstellte. Marina war genervt. Es war völlig unüblich, dass sie so lange brauchte, um eine Stimmung zu treffen. Aber Heert war unerbittlich. Er unterbrach sie laufend. Es war offensichtlich, worauf er es abgesehen hatte, und am
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