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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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hier sind, vergesse ich die Sache. Sonst will ich Sie hier nie wieder sehen.«
    Eine Woche. Die Zeit lag vor ihr wie ein unbekannter Kontinent, den sie durchqueren musste. Während sie hier in Zürich saß, liefen in Berlin die Soli-Proben für Verdiana und den Nussknacker. Training war heute freiwillig. Aber natürlich wäre sie hingegangen und hätte danach der Primaballerina beim Proben zugeschaut. Stattdessen stand sie hier im Duty-free-Shop und kaufte Hygieneartikel, weil ihr plötzlich eingefallen war, dass solche Dinge in diesem fernen Land vielleicht schwierig zu finden sein könnten. Dann suchte sie nach einem Zeitungsladen und war angenehm überrascht, dort auch eine Bücherwand mit Reiseliteratur zu entdecken. Kurz entschlossen griff sie nach einem Reiseführer über Argentinien, der allerdings auf Englisch verfasst war, und bezahlte das erste Mal mit der Kreditkarte, die sie gestern Morgen im Haus ihrer Eltern entwendet hatte. Das Lesegerät nahm die Plastikkarte anstandslos entgegen und spuckte nach einigen Sekunden ratternd den Beleg aus. Giulietta unterschrieb mit dem Schriftzug ihrer Mutter und verwahrte die Karte sorgfältig. Ihre Mutter könnte die Karte sperren lassen, und dann wäre sie ohne Geld. Sie überlegte, ob ihre Eltern so weit gehen würden. Ihr Rückflug war am 4. Dezember. So lange musste sie dort drüben ausharren. Nein, ihre Mutter würde die Karte nicht sperren lassen. Das könnte sie ernsthaft in Schwierigkeiten bringen. Sie würde anrufen, sobald sie angekommen war. Aber nicht zu Hause. Da könnte ihr Vater an den Apparat gehen, und er war der Letzte, mit dem sie jetzt sprechen wollte. Sie war selbst fassungslos über diesen Gedanken. Wie konnte sie so etwas gedacht haben? Ihr Vater, den sie vergötterte. Und plötzlich war er ihr so fremd und fast verhasst. Es passte einfach nichts zusammen. Es musste irgendwo eine Erklärung geben, warum plötzlich nichts mehr so war wie zuvor.
    Sie verstaute ihre Einkäufe in ihrer Segeltuchtasche und setzte sich direkt neben dem Abfertigungsschalter auf eine Bank. Zwei Damen der Swissair tippten bereits irgendwelche Daten in den Computer, und die ersten Fluggäste bildeten vor dem Schalter den Anfang der schnell länger werdenden Warteschlange. Giulietta reihte sich ein. Der Aufruf zum Einsteigen erklang, und die Glastür zum Einstiegstunnel glitt zur Seite.
    Je näher Giulietta dem Lesegerät rückte, das die Flugscheine codierte, desto nervöser wurde sie. Waren diese Computer nicht alle vernetzt? Hatte ihr Vater vielleicht doch erreicht, dass die Polizei sie suchte? Sie schaute sich nervös um und warf einen prüfenden Blick in die Abfertigungshalle, aber nirgends kamen Uniformierte herbeigestürmt, um sie festzunehmen. Sie ging vorwärts. Noch zwei Fluggäste waren vor ihr. Ihre Tickets sausten durch den Automaten, der einen kümmerlichen Rest davon wieder ausspuckte. Dann war sie an der Reihe. Die Dame nahm ihren Flugschein entgegen, schaute kurz darauf, steckte ihn in den Schlitz und reichte ihr lächelnd den Abschnitt mit ihrer Platznummer.
    »Danke schön. Angenehmen Flug.«
    Eine Stunde später war sie über den Wolken und über Frankreich, wie sie auf dem Bildschirm am Ende der Kabine erkennen konnte. Das Flugzeug war bis auf den letzten Platz gefüllt. Giulietta war am Fenster gelandet. Neben ihr saßen zwei ältere Damen, die sich in einer ihr völlig unverständlichen Sprache unterhielten. Kurz nach dem Start war es im Rahmen der Verabreichung eines Begrüßungssnacks zu einem kurzen Austausch englischer Satzbruchstücke zwischen ihnen und Giulietta gekommen. Aber das war auch schon alles. Glücklicherweise saß keiner der Männer neben ihr, die sie im Vorbeigehen schamlos anstarrten. Sie hatte einige Übung darin, durch ein Minenfeld geiler Männerblicke hindurchzuschweben, aber in einem Flugzeug gab es nicht viele Ausweichmöglichkeiten. So schaute sie aus dem Fenster, betrachtete die sonnenbeschienene, glitzernde Tragfläche und schickte unfertige Gedanken an den blauweißen Horizont, wo sie sich unfertig in nichts auflösten.

2
    S ie war Damián am vierundzwanzigsten September begegnet. Es war ein regnerischer Tag gewesen. Waren nicht fast alle Tage in Berlin regnerisch, wenigstens in der Erinnerung? Die Woche hatte sie erschöpft. Proben ohne Unterlass, Nussknacker und Verdiana. Sie hatte tapfer durchgehalten, war nach jedem Einsatz am Rand des Probensaals hingesunken, hatte sich ausgeruht oder an ihren Schuhen herumgemacht,

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