Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Menschen sitzen täglich acht bis zehn Stunden am Schreibtisch und bekommen ein schiefes Kreuz und Bandscheibenschäden. Oder sie fahren Ski und brechen sich alle Knochen. Oder sie rauchen jeden Tag zwanzig Zigaretten, so wie du. Solange du Zigaretten rauchst, sag bitte nichts über meine Füße.«
Zwei Wochen später hatte sie sich vier Weisheitszähne auf einmal herausoperieren lassen, um möglichst wenig Training zu verpassen. Sie lag fast eine Woche lang mit geschwollenen Backen im Bett, schluckte Schmerztabletten und Antibiotika und trainierte bereits wieder, bevor die Fäden gezogen waren. Anita erwog ernsthaft, den Zahnarzt zu verklagen.
Markus teilte Anitas Sorge nur zum Teil. Die körperliche Zähigkeit seiner Tochter war ihm zwar ein wenig unheimlich. Aber in Wirklichkeit faszinierte ihn die Unerbittlichkeit, mit der die Kinder an diesen Beruf herangeführt wurden. So liefen die Erziehungsgespräche zwischen Markus und Anita stets nach dem gleichen Muster ab.
»Tänzer müssen an beiden Enden brennen«, würde Markus sagen, »sonst wird das nichts. Sei doch froh, dass du eine Tochter hast, die etwas will.«
»Sie ist viel zu jung, um wissen zu können, was sie will.«
»Das ist Zwergendenken für Durchschnittsmenschen. Deine Tochter ist nicht durchschnittlich.«
»Jedes Kind hat das Recht auf eine Kindheit.«
»Und jedes Talent hat das Recht auf Entfaltung.«
»Das ist DDR -Mentalität. Leistung. Leistung. Leistung.«
»Nein. Das ist ein Naturgesetz. Wenn du Geige spielen willst, musst du Geige spielen. Und du musst es rechtzeitig und ausreichend häufig tun, sonst kannst du es von vornherein lassen. Dieser ganze antiautoritäre Hippie- und Spontikram bei euch hier war ja vielleicht ganz nett, aber außer frustrierten Studienräten und ein paar krawattenlosen Parlamentsabgeordneten ist dabei nicht viel herausgekommen.«
»Immerhin ist dieses Land noch vorhanden. Andere sind verschwunden.«
»Werde nicht unsachlich.«
»Du treibst deine Tochter an, weil du selbst nicht den Mut hattest für so etwas.«
»Stimmt. Ich hatte den Mut nicht. Und auch nicht das Talent. Aber ich treibe überhaupt niemanden an. Das macht sie schon selbst.«
Das musste Anita zugeben. Sie hatte gehofft, Giulietta würde nach kurzer Zeit aufgeben, den Leistungsdruck nicht aushalten. Aber Giulietta wusste genau, dass ihre Mutter nur auf eine Schwäche wartete, um ihren Widerstand zu verschärfen. Sie ließ sich nichts anmerken. Selbst wenn sie manchmal erst gegen zehn Uhr abends nach Hause kam und todmüde ins Bett fiel, saß sie doch am nächsten Morgen um viertel nach sieben am Küchentisch, schälte zufrieden ihr Obst und konnte es kaum erwarten, ihre Füße mit Hirschtalg einzuschmieren, die Zehen mit Klebestreifen und Wattestücken zu präparieren, in die Spitzenschuhe zu steigen und den Tag mit einer ersten großen Arabesque zu beginnen.
Im Mai des Jahres 1999 hatte Giulietta die einstündige Abschlussprüfung bestanden und stand damit vor dem Nichts. Sie wusste nicht, was ihr fehlte. Aber nach dem siebzehnten Vortanzen für eine Stelle war ihr allmählich klar geworden, dass es etwas Grundlegendes sein musste. Von den vierzehn Mädchen ihres Jahrgangs hatten im Juni nur noch drei kein Engagement, und Giulietta war eine davon. Zwei Wochen später war sie die Einzige ohne Engagement, nachdem ihre letzten beiden Klassenkameradinnen ein Angebot nach Kaiserslautern und Neustrelitz angenommen hatten. Es gab zwar auch für Giulietta Angebote, aber sie waren ihr nicht gut genug.
»Was dir fehlt, ist ein bisschen Bescheidenheit«, sagte eine ihrer Klassenkameradinnen.
»Bevor ich nach Kaiserslautern gehe, mache ich eine Banklehre«, erwiderte Giulietta.
»Na, dann kauf dir schon mal einen Taschenrechner, Frau Superstar«, erhielt sie zur Antwort.
Im Juli ergriff sie zum ersten Mal Panik. Sie war im oberen Drittel ihrer Klasse gewesen, also konnte es einfach nicht sein, dass sie sich in irgendeinem Provinzkaff mit dem erstbesten Angebot zufrieden geben sollte. Aber in sechs Wochen begann die neue Spielzeit, und alle Ensembles waren längst besetzt. Noch konnte sie in der Schule mittrainieren. Und da waren auch noch zwei oder drei Vortanz-Termine im Ausland, die sie wahrnehmen würde. Aber ihre Gemütsverfassung verschlechterte sich ständig. Bald wäre Schluss mit dem Training in der Schule. Dann würde sie mit dem Heer der arbeitslosen Tänzer in irgendwelchen privaten Ballett-Schulen morgens ein Training absolvieren,
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