Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Pflaster geklebt, Klebestreifen geschnitten, Spitzen geflickt oder Bänder neu befestigt. Man konnte durchaus den Eindruck bekommen, so ein Ballett-Ensemble bestehe hauptsächlich aus Näherinnen. Alle waren erschöpft an diesem Freitag, aber das Programm musste durchgezogen werden. Nach dem üblichen Training von zehn bis halb zwölf war ein Durchlauf durch Akt II der Verdiana angesetzt. Dann um halb eins Nussknacker, die Schneeflocken plus Schneekönigin, und um halb zwei der Blumenwalzer. Um halb drei dann auch noch der Tanz der Rohrflöten, und danach hatte sie endlich Pause, weil ab halb vier Drosselmeyer, Marie und Prinz und später Drosselmeyer und Großherzogin geprobt wurden. Morgen war Vorstellung, bei der sie wie üblich noch nicht mittanzen würde, es sei denn, es gab während der Probe gleich mehrere verstauchte Knöchel, was sehr unwahrscheinlich war.
Sie hatte um vier Uhr das Gebäude verlassen, um zu den Hackeschen Höfen zu gehen. Sie konnte sich noch gut an ihre Stimmung an diesem Nachmittag erinnern. Sie war völlig erschöpft, aber auch ein wenig euphorisch gewesen. Sie hatte einige aufmunternde Blicke von Kolleginnen bekommen. Die Direktorin war mehrmals oben auf der Zuschauergalerie erschienen und hatte ihr nach einem Gruppeneinsatz zufrieden zugezwinkert. Diese Signale waren ihr Wasser und ihr Brot. Aus der Gruppe hatte sie bisher keine besondere Feindschaft gespürt. Die sieben Solistinnen und die vier ersten Solistinnen waren ohnehin in einer anderen Welt, ganz zu schweigen von der Primaballerina. Giulietta hatte nichts von ihnen zu befürchten, weil diese ihrerseits von ihr nichts zu befürchten hatten. Sie würde Jahre brauchen, dieses Niveau zu erreichen. Aber für die Gruppenmitglieder war eine Hospitantin immer eine gewisse Gefahr, vor allem, wenn sie gut war.
Giulietta war gut, aber die letzten Monate, die erfolglosen Vortanztermine, hatten etwas in ihr zerstört. Ihre gute Technik war ihre Stärke und zugleich ihre Schwäche. Je unsicherer sie geworden war, desto mehr hatte sie sich dort hinein geflüchtet. Ihr Tanz hatte etwas Kaltes. Sie fiel einfach nicht auf, wenn sie mit dreißig anderen an der Stange stand und ihre Übungen machte. Sie hatte siebzehnmal vorgetanzt und war nur ein einziges Mal bis zu den Übungen in der Mitte gelangt. Sonst war sie immer schon nach der Stange nach Hause geschickt worden. Trotz des unbestreitbaren Erfolgs, jetzt doch noch in der Staatsoper hospitieren zu dürfen, war ihr Selbstbewusstsein ausgehöhlt. Sie tanzte ohne Begeisterung. Sie war präzise und geschmeidig, aber ausdruckslos und ein wenig furchtsam. Was sie im Augenblick rettete, waren ihre Automatismen, und sie dankte Gott, dass sie auf der zwar umstrittenen, aber in Fragen der Technik überragenden Staatlichen Berliner Ballett-Schule ausgebildet worden war. Der ehemaligen DDR -Eliteschule hing immer noch der Ruf an, Ballett-Automaten heranzuzüchten, und Giulietta erinnerte sich noch gut an den Aufschrei ihrer Mutter, als sie mit zehn Jahren beschlossen hatte, diese Schule zu besuchen. Die Diskussion zwischen ihren Eltern war nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen, aber sie hatte bei halb geöffneter Zimmertür gelauscht.
»Die werden aus deiner Tochter eine Tanzmaschine machen«, hatte ihre Mutter gesagt und hinzugefügt: »Ich wette, die spritzen ihr schon im ersten Jahr Hormone.«
»So ein Stuss«, hatte ihr Vater erwidert. Aber im Grunde war auch ihm nicht wohl dabei gewesen, seine über alles geliebte Tochter in eine Ballett-Schule der von ihm über alles gehassten, ehemaligen DDR zu schicken. Ballett-Tanz war Hochleistungssport, und wie die DDR Hochleistungssportler behandelt hatte, war ja bekannt. Klassischer Tanz wurde natürlich nach der russischen Methode unterrichtet. Waganowa-Schule. Anita besorgte sich das Lehrbuch und las es durch. Dann konfrontierte sie Markus damit: »Hör dir das mal an:
Bei Übungen ist genauso vorzugehen wie bei der Behandlung einer Krankheit
. Weißt du, was das heißt? Der gesunde Körper wird als krank betrachtet.«
Das Thema blieb umstritten.
»Du ruinierst deinen Körper«, sagte ihr Mutter einmal, als Giulietta schon siebzehn und das Ende der Ausbildung absehbar war.
»Quatsch. Geh mal in eine Diskothek, wo die Rauchschwaden hängen, oder auf einen Fußballplatz. Sport ist zehnmal ungesünder als Tanzen.«
»Aber schau doch nur mal deine Füße an. Das kann einfach nicht gut sein.«
»Sicher, Mama. Ist es auch nicht. Aber Millionen von
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