Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Markus in der Partei auch ziemlich dick aufgetragen haben, sonst hätten die ihn nicht so lange weggelassen. Ich will nicht wissen, was das für einen Krach gegeben hat. Auch für Markus war das riskant. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie ihm die Stasi hinterhergeschickt hätten, um ihn zu liquidieren. Entschuldige, ich will dich nicht erschrecken, aber das ist ja auch alles lange her und längst vorbei.«
Giulietta war bleich geworden. Sie schaute hilflos im Zimmer umher und bemerkte, dass Lutz wieder erwacht war und ihnen zuhörte. Aber sie konnte ihn ja wohl schlecht hinausschicken. Dann würde er es eben erfahren. Es war nicht mehr zu ändern.
»Er hat seinen Namen geändert«, sagte sie. »Ich denke, er wusste, wie man sich versteckt.«
Loess zuckte mit den Schultern. »Gewiss. Ein schlauer Junge war er ja schon immer.«
»Wann ist er denn geflohen?«
»Irgendwann vor dem 22. Dezember 1975. Denn da ist die Stasi hier aufgetaucht und hat uns in die Zange genommen. Wahrscheinlich ist er auf dem Heimflug an Weihnachten abgehauen. Bestimmt war es so.«
»Und seither hat niemand mehr etwas von ihm gehört?«
Er lachte. »Mein liebes Kind. Das wäre ja wohl Selbstmord gewesen, wenn er sich hier gemeldet hätte. Du hast das nicht mehr erlebt, wie das früher hier war. Mit jemandem verwandt zu sein, der Republikflucht begangen hat, war ja schon schlimm genug. Aber von so einem Post zu bekommen … undenkbar.«
Sie nickte.
»Wie heißt er denn heute?«
Giulietta zögerte einen Augenblick. Aber dann kam sie sich schäbig vor. Ihr Onkel hatte ihr alles erzählt. Warum sollte sie ihm etwas verheimlichen.
»Battin«, sagte sie. »Markus Battin.«
»Battin?«, erwiderte er verwundert. »Battin … ausgerechnet.«
Er schaute vor sich auf den Tisch und schüttelte den Kopf.
»So was aber auch«, murmelte er. Dann holte er einen Gegenstand aus der Innentasche seiner Cordjacke. Es war eine Taschenuhr. Er ließ den Deckel aufspringen. Eine hübsche, heitere Melodie erklang. Er legte die Uhr vor Giulietta auf den Tisch. Sie sah alt und kostbar aus. Der aufgeklappte Innendeckel war offenbar aus Silber. Aber die Innenseite war dunkel angelaufen. Eine geschwungene Gravur war darauf angebracht. Giulietta versuchte sie zu entziffern, aber es gelang ihr nicht. Dann fiel ihr Blick auf das Zifferblatt. Ihre Hand zuckte unwillkürlich, als sie die fein emaillierte Inschrift darauf las.
Battin. Joaillier & Horloger. Lyon
. Sie schaute verblüfft Konrad Loess an. Der zuckte mit den Schultern.
»Die Uhr ist seit ewigen Zeiten Familienbesitz. Keiner weiß, wie sie zu uns gekommen ist.«
Giulietta betrachtete erneut das Zifferblatt mit der für sie mysteriösen Aufschrift. Ihr Nachname ging auf einen französischen Juwelier zurück? »Und was bedeutet die Gravur?«
»Ich weiß es nicht. Angeblich ist es Französisch.«
Giulietta versuchte erneut, die Buchstaben zu entziffern, aber sie waren zu verschnörkelt und der Untergrund zu stark oxidiert.
»Wahrscheinlich ist die Uhr mit Napoleon hier in die Gegend gekommen«, sagte ihr Onkel.
Er verstummte und hörte der Musik zu, bis sie nach einem hellen Dreiklang erstarb.
»So ganz hat Markus uns dann wohl doch nicht vergessen, nicht wahr?«
Giulietta wusste nicht, was sie sagen sollte. Der Mann wirkte auf einmal traurig. Sie mied seinen Blick, spürte jedoch, dass sie etwas sagen musste, um die drückende Stille zu lösen.
»Bestimmt nicht«, sagte sie. »Er trägt die Uhr ja sozusagen bei sich … in seinem Namen, der ihn täglich erinnert.«
Konrad Loess griff nach einer Zigarette und zündete sie an. »Da hast du Recht«, sagte er und blies den Rauch an die Decke. »Stimmt wohl, was man so sagt«, fügte er dann hinzu. »Nur wer sich erinnert, kann vergessen.«
Er schaute nachdenklich vor sich auf den Tisch. Dann beugte er sich zur Seite und hustete. Giulietta schwieg. Der Satz trieb ihr Tränen in die Augen, und sie wandte sich ab.
14
W ährend der Rückfahrt sprachen sie kaum. Lutz saß am Steuer. Giulietta schaute aus dem Fenster, nahm jedoch kaum Notiz von den Dingen, die sie dort sah. Sie war zugleich aufgewühlt und niedergeschlagen. Sie fühlte sich hintergangen und hatte im selben Augenblick ein schlechtes Gewissen. Hatte sie das Recht, in der Vergangenheit ihres Vaters herumzuschnüffeln? Stand ihr ein Urteil über ihn zu? Wusste sie überhaupt, was er durchgemacht hatte? Warum er so geworden war? Wie war es möglich, dass ihre Mutter nichts von all
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