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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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arbeitet in Berlin für einen Sicherheitsdienst. Ist er dann auffällig geworden wegen seiner Einstellung? Ich meine, ist er deshalb ins Gefängnis gekommen?«
    Konrad Loess runzelte die Stirn. »Gefängnis? Wie kommst du denn darauf? Das ist ja das Verrückte. Er ist in die Partei gegangen. Kein Mensch hat das verstanden. Ausgerechnet Markus, der allen Kommunisten den Schädel spalten wollte. Ist einer der Schlimmsten hier gewesen. Später natürlich erst. Da war er schon zwanzig oder so, bei der NVA .«
    » NVA ?«
    »Militärdienst. Mich hat er immer in Ruhe gelassen. Ich weiß auch nicht, warum. Familienbande vielleicht. Ich konnte ihm auch immer meine Meinung sagen, wenn er wieder jemanden denunziert und fertig gemacht hatte. Er hat aber einfach weitergemacht, ist aufgestiegen. Alle hier hatten Angst vor ihm. Vater hätte sich geirrt, sagte er. Ein Reaktionär sei er gewesen. Es war schlimm. Aber so bekam er, was er wollte: Freiberg. Waren alle froh, als er endlich weg war.«
    »Freiberg?«
    »Er wollte nach Freiberg, auf die Bergakademie. So etwas hatte natürlich einen Preis. Das Parteibuch, mit allem, was dazu gehört. Er hat den Preis bezahlt. Mit Zins und Zinseszins. Sonst hätten die ihn doch nie nach Kuba geschickt.«
    Giulietta starrte den Mann an. »Kuba … wieso Kuba?«
    »Markus war mehrmals in Kuba. Erst 1972. Dann nochmals 1975. Es gab diese Kooperationsabkommen mit den Kubanern. Die hatten ja Kupfer- und Nickelminen. Es waren immer so an die dreihundert Ingenieure von uns dort. Manchmal frage ich mich, ob er die ganze Sache nicht von Anfang bis Ende geplant hat. Um sich zu rächen, verstehst du? Die ganzen Jahre zuvor war er einer der schärfsten Hunde in der Partei, der jeden hochgehen ließ, der nicht hundertprozentig auf Linie war. Markus Loess. Das war nicht irgendeiner. Und dann lässt er sich ins Ausland anheuern und haut ab.«
    »Abhauen? Wieso abhauen? Ist er denn nicht freigekauft worden?«
    Konrad Loess verzog den Mund. Dann schaute er Giulietta an und griff sich an die Stirn. »Eigentlich verrückt, nicht wahr, dass du meine Nichte bist?«
    »Ja.« Sie lächelte unsicher.
    »Sonst könnte ich dir das alles ja gar nicht erzählen. Aber Verwandtschaft? Weiß er überhaupt, dass du hier bist?«
    Sie trank einen Schluck Kaffee, bevor sie antwortete. »Nein.«
    Er schaute sie prüfend an, dann senkte er die Augen und drückte seine Zigarette aus.
    »Ach, was solls! Du bist seine Tochter und hast ja wohl ein Recht, das zu erfahren. Ich schulde ihm nichts, das kann ich dir sagen.«
    Er schüttete sich Kaffee nach und angelte umständlich einen Würfelzucker aus dem aufgerissenen Päckchen auf dem Tisch. »Markus war ein Fuchs. Bei ihm war nichts normal. Ledige kamen nie länger als ein Jahr raus. Aber ihn haben sie gleich für zwei Jahre geschickt. 1972 bis 1974. Dann kam er zurück, blieb ein Jahr an der Universität in Freiberg und fuhr 1975 schon wieder, angeblich für zwei weitere Jahre.«
    »Nach Kuba?«
    »Ja.«
    »Er sprach also Spanisch?«
    »Natürlich. Alle Auslandskader lernten die Sprache ihres Einsatzortes. Er verbrachte mehrere Monate am Fremdspracheninstitut in Plau am See. Ich habe ihn dann nur noch einmal gesehen, im Herbst 1974. Da war er gerade vier Monate zurück, aber es war schon abzusehen, dass er wieder hinüberfahren würde. Wir hatten uns nicht viel zu sagen. Diesmal besuchte er das Grab der Eltern. Im Übrigen war er unverändert.«
    »Und über Kuba erzählte er nichts? Was er dort tat? Wie er dort lebte?«
    »Nein. Nicht viel. Heiß sei es. Und schmutzig. Das war alles.«
    »Und dann?«
    »Dann verschwand er. Weihnachten 1975 kam die Stasi hier an und stellte alles auf den Kopf. So erfuhren wir, dass er abgehauen war. In Gander.«
    »Gander?«
    »Das kannst du nicht wissen. Ist zu lange her. Wie alt bist du eigentlich, wenn ich fragen darf?«
    »Zwanzig. Ich bin 1979 geboren.«
    Er schaute zur Decke, als helfe ihm das beim Nachdenken.
    »Neufundland«, sagte er dann. »Die Interflug-Maschinen mussten in Gander zwischenlanden. Das war zwischen Kuba und Ost-Berlin die einzige Möglichkeit, sich abzusetzen. Ist so gut wie nie vorgekommen. Die Auslandskader hatten ja alles. Reisen, Gehalt und Zulage, Privilegien. Außerdem mussten die meisten Frau und Kind in der DDR zurücklassen oder waren anderweitig erpressbar. Von den zweitausend Ingenieuren, die über die Jahre in Kuba waren, sind nur drei abgehauen. Daran kannst du ermessen, wer überhaupt rauskam. Deshalb muss

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