Drei Minuten mit der Wirklichkeit
so perplex, dass er erst reagierte, als sie bereits an ihm vorbei und im Vorzimmer war. Er hob die Hand. »Einen Augenblick bitte«, sagte er ernst und ging zwei Schritte auf sie zu. »Wer sind Sie?«
Aber sie antwortete ihm nicht und stürzte zur Ausgangstür.
Während sie die Treppe hinabeilte, wurde ihr Atem schwerer. Sie bekämpfte die Schockwellen, die durch ihren Körper liefen. Ein furchtbares Gewicht lastete auf ihren Lungen. Großer Gott, dann war es wahr!
Damián hatte ihren Vater gesucht!
Deshalb war er nach Berlin gekommen!
Aber warum nur?
Warum?
18
I n der darauf folgenden Nacht schlief sie kaum.
Erst während des Trainings am Freitag gab es Augenblicke, in denen sie alles vergaß. Die Stimmung war zugleich nervös und gelöst. Der Aufführungstermin rückte heran. Die Tänzerinnen und Tänzer verschmolzen allmählich zu einem wirklichen Ensemble. Die Rollen waren verteilt. Jetzt ging es wirklich um das Stück. Viviane Dubry schaute sich den ersten Durchlauf an und nickte Giulietta nach dem Solo anerkennend zu. Heert strahlte und bat Giulietta, nach den Proben noch dazubleiben, da er etwas mit ihr besprechen wollte.
Ihre Bedrückung wich indessen nicht von ihr. Oft stand sie während der Proben nur unbeteiligt am Rand und nahm kaum wahr, was um sie herum geschah. Nur als sich während der Mittagspause Marina Francis zu ihr setzte und mit ihr plaudern wollte, taute sie ein wenig auf. Giulietta bewunderte die Australierin vorbehaltlos. Ihr Verhalten nach der Auseinandersetzung mit Heert, ihr Applaus für die junge Konkurrentin, hatte außerdem gezeigt, dass sie ein großartiger Mensch war. Es tat Giulietta gut, dass Marina keinen Groll gegen sie hegte und sogar ein wenig ihre Nähe suchte. Ein paar Tische weiter saß Enska und starrte zu ihnen herüber.
Es war bereits halb acht, als der Probensaal sich allmählich leerte. Im Flur drängelte sich die von der Maske zurückkehrende Gruppe, die an jenem Abend
Cinderella
tanzte. Heert kam den Flur entlang und saugte mit einem Strohhalm Coca-Cola aus einem Pappbecher. Er nickte ihr zu, sie betraten den Probensaal, und er schloss die Tür.
»Du hast dich schon umgezogen?«, fragte er irritiert. Dann fing er an, über Piazzollas Musik zu sprechen. Er wollte von ihr wissen, was sie darüber dachte. Sie konnte dazu nichts sagen.
»Ich habe dich vor ein paar Tagen gesehen, wie du
Escualo
getanzt hast«, sagte er dann. »Woher kennst du das Stück?«
Sie war verlegen, zeichnete mit den Zehenspitzen einen Kreis auf den Boden. »Ein Freund hat es mir vorgespielt«, sagte sie schnell.
»Tanzt du es mir noch einmal vor?«, fragte er.
»Jetzt gleich?«
»Warum nicht? Oder bist du müde?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist eine Improvisation«, sagte sie.
»Eben deshalb«, erwiderte er.
Sie zögerte. Heert betrachtete sie neugierig. »Erklär mir diese Musik.«
Sie schaute ihn verwundert an.
»Nein, ich meine es ernst. Ich habe dieses Tango-Stück schon x-mal gemacht, aber wenn ich dich dazu tanzen sehe, ist es etwas ganz anderes.«
Sie errötete und blickte zu Boden.
»Sei nicht albern, Giulietta. Woher kommt das? Wer hat dir das gezeigt?«
»Es ist einfach ein Gefühl«, sagte sie. »Ich kann es nicht erklären.«
Sie ging in die Garderobe, um sich umzuziehen. Als sie zurückkam, erklangen bereits die ersten Takte des Stückes. Heert setzte die CD an den Anfang zurück, und Giulietta begann. Sie lief mit weit ausholenden Schritten durch den Raum. Sie war Damián.
Der Holländer ging in die Knie und verfolgte gebannt ihren Tanz. Sie spürte, dass sie Macht über ihn hatte. Er war wie verhext von ihren Bewegungen und irritiert, dass er die Quelle ihrer Ausdruckskraft nicht begriff. Sie fühlte, dass er die Erklärung für das Besondere ihres Stils in den Bewegungen suchte, in einer anderen Armhaltung, einer leichten Verzögerung beim Voranschreiten, einem weniger herausgestellten Becken. Aber das war es nicht allein. Es war nur der äußerliche Niederschlag von etwas ganz anderem, von ihrem unübersetzbaren Gespräch mit Damián. Und sie wusste, dass keiner der Beckmann-Tangos an diese Improvisation heranreichte. Sie drehte auf der Stelle, ihre Füße strichen aneinander vorbei. Nichts war geöffnet. Sie ruhte in sich. Sie hatte nichts Besonderes vorzuzeigen. Nur ihre Einsamkeit. Ihre Trauer. Ihre Verzweiflung. Und dennoch …
Heert sagte nichts, als sie fertig war. Giulietta atmete schwer, ihre Brust hob und senkte sich, sie hatte die
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