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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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auf solche Gemeinheiten auch noch. Mensch, Viviane. Sind wir denn hier beim Zirkus?«
    Viviane blieb ruhig, aber ein gefährlicher Unterton schlich sich in ihre Stimme. »Heert. Maggie. Theresa. Geht ihr bitte raus, ja?«
    Als sie allein waren, kam Viviane direkt zur Sache. »Wie stellen Sie sich das vor? Wollen Sie bei jedem privaten Problem das Ensemble hängen lassen? Ich kann keine Tänzerin brauchen, die nicht hundertfünfzigprozentig bei der Sache ist. Verstehen Sie das nicht?«
    Giulietta schwieg. Sie wollte sich rechtfertigen, aber alle Sätze, die sie sich in ihrem Kopf zurechtlegte, klangen gleichermaßen hohl. Sie hatte sich in einer Ausnahmesituation befunden. Aber das interessierte hier niemanden. Und um sich verständlich zu machen, hätte sie zu viel erklären müssen.
    »Erst verbauen Sie sich den Weg an der Staatsoper. Und jetzt fangen Sie hier genauso an …«
    »Das sieht nur so aus«, erwiderte sie leise.
    »Wie bitte?«
    »Es ist nicht das Gleiche.«
    »Ach ja. Und wieso?«
    »… ich … ich kann Ihnen das nicht besser erklären. Aber es ist vorbei, endgültig vorbei. Das weiß ich … Vertrauen Sie mir noch einmal … lassen Sie mich das Solo tanzen, und Sie werden sehen.«
    Viviane lehnte sich zurück und betrachtete sie mit einer Mischung aus Neugier und Unverständnis. Giulietta schaute ihr direkt in die Augen und versuchte sich vorzustellen, was in ihrem Kopf vorgehen musste. Sie spürte, dass alles an einem seidenen Faden hing. Was sie getan hatte, war unerhört. Zweimal kurz hintereinander gegen die Regeln verstoßen und sich dabei erwischen lassen. Viviane hatte kaum eine Wahl. Sie musste so reagieren. Sie war Ballett-Direktorin. Aber sie war auch Tänzerin gewesen. Eine der ganz großen. Und wenn Giulietta auch noch nicht wusste, woher das kam, was sie seit einigen Wochen in sich spürte, so war sie sich doch der Tatsache bewusst, dass es etwas Seltenes war. Sie würde diesem Stück etwas Besonderes geben, und Viviane sträubte sich, das fallen zu lassen.
    »Enska hasst mich.«
    »Das tut nichts zur Sache.«
    »Ich denke schon. Auch andere Tänzerinnen fehlen bisweilen.«
    »Das weiß ich selbst. Aber sie haben nicht Ihre Vorgeschichte.«
    Giulietta hielt ihrem prüfenden Blick stand und sagte: »Sie haben mein Wort.«
    »Das haben Sie mir schon einmal gegeben.«
    »Bitte …«
    Viviane stand auf und trat ans Fenster. Eine Minute verging. Eine endlose Minute. Dann drehte sie sich zu ihr um. »Eine Chance gebe ich Ihnen noch. Aber ich schwöre Ihnen, das ist Ihre letzte.«

16
    K annenberg empfing sie in seinem Büro. Im Gegensatz zum Empfangszimmer war dieser Raum hell und modern eingerichtet. Eine beträchtliche Unordnung, die auf dem von Dokumenten überquellenden Schreibtisch ihren Ausgang nahm, dominierte das Erscheinungsbild. Mit einer Ausnahme: Nikolaus Kannenberg selbst, der hinter dem Schreibtisch auf einem dieser Therapiestühle ohne Rückenlehne saß. Er vermittelte den Eindruck, dass er ohne langes Suchen jedes gewünschte Dokument in den übereinander gestapelten Ordnern und Kladden finden würde.
    Giulietta hatte ihn am Morgen angerufen, noch vor ihrem Gespräch mit Viviane. Jetzt war es fast acht Uhr abends. Sie war vom Training erschöpft. Doch zugleich brannte sie vor Neugier auf diese Begegnung, vor allem deshalb, weil der Anwalt sie gedrängt hatte, noch am gleichen Abend zu ihm zu kommen.
    Der Mann war groß und wirkte durch seine Vollglatze älter, als er wahrscheinlich war. Seine Bewegungen erinnerten Giulietta ein wenig an einen Basketballspieler, zugleich tapsig und drahtig, als wüsste er in Ermangelung eines Balls nicht so recht, wohin mit seinen langen Armen. Er nahm auffallend oft seine runde Hornbrille ab, um sie mit einem Tuch zu putzen, das er in der Brusttasche seines Hemdes aufbewahrte. Seine Stimme war sanft. Fast zu sanft für ihren Geschmack.
    »Es ist nett von Ihnen, dass Sie heute noch gekommen sind«, begann er.
    »Ich habe ohnehin bis um sieben gearbeitet«, erwiderte sie.
    »Sie sind aus Berlin?«
    »Ja.«
    »Studentin?«
    »Nein. Ich arbeite an der der Deutschen Oper. Ich bin Tänzerin.«
    Sein Gesicht hellte sich auf. »Ballett-Tänzerin?«
    »Ja.«
    »Das ist ja großartig. Wie war noch Ihr Name?«
    »Battin. Giulietta Battin.«
    »Habe ich Sie schon im Programmheft gesehen? Nein, warten Sie.
Blumenfest von Genzano
. Vor Weihnachten. Oder?«
    »Nein. Ich bin ganz neu im Ensemble. Ich habe erst vor einem halben Jahr die Schule

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