Drei Minuten mit der Wirklichkeit
sie die Gesamtsituation betrachtete, verirrte sie sich sofort in unklaren Theorien. Was hatte Damián wirklich in Berlin gesucht? Warum hatte er ihr das nie gesagt? Hing vielleicht doch alles mit ihrem Vater zusammen? Hatte sich Konrad Loess geirrt? War ihr Vater gar nicht in Kuba, sondern in Argentinien gewesen? War die DDR möglicherweise in den Militärputsch in Argentinien verstrickt? Waren deshalb dort Deutsche verschwunden? Westdeutsche? Oder war ihr Vater von Kuba zunächst nach Argentinien gegangen?
Sie verwarf den Gedanken. Solch ein Unsinn. Ihre Fantasie ging mit ihr durch. Die Amerikaner hatten den Putsch in Chile inszeniert. Das wusste jeder. Um die Ausbreitung des Kommunismus zu verhindern. Aber Argentinien? Giulietta gab auf. Sie hatte keine Ahnung von diesem Land. Noch immer nicht. Sie verstand überhaupt nicht, was dort geschehen war. Warum ließ eine Militärregierung Zivilisten ermorden, darunter Schülerinnen und Fabrikarbeiter? Es war absurd, einfach absurd.
Kannenberg kehrte zurück und reichte ihr die Zeitungsausschnitte. Er hatte sich Kopien gemacht, die er jetzt neben sich ablegte. »Laut diesen Zeitungsberichten hat Damián Alsina Selbstmord begangen.« Die Stimme des Anwalts war noch leiser geworden. »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«
»Einige Stunden vor dem Unfall«, erwiderte sie.
»Könnten Sie mir das etwas genauer schildern?«
»Das kann ich, Herr Kannenberg. Deshalb bin ich gekommen. Aber meinen Sie nicht, Sie sollten mir erklären, warum Herr Alsina bei Ihnen gewesen ist? Ich meine, wozu braucht ein argentinischer Tangotänzer einen Rechtsanwalt in Berlin?«
»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen.«
»Aber Sie erwarten von mir, dass ich Ihnen alles über Herrn Alsina erzähle?«
Ihre Antwort irritierte ihn offenbar, aber er bemühte sich, das zu überspielen.
»Es würde uns und auch der Sache von Herrn Alsina unter Umständen sehr helfen, wenn Sie das täten. Aber natürlich sollten Sie das nur aus freien Stücken tun.«
Giulietta sank auf ihren Stuhl zurück. »Sie bearbeiten mehrere ähnliche Fälle, nicht wahr? Ich habe Ihr Foto dort an der Pinnwand gesehen … und die Liste der verschwundenen Deutschen. Was hatte Deutschland mit der Diktatur in Argentinien zu tun?«
»Mehr als Sie glauben. Aber das ist eine komplizierte Geschichte. Ich vertrete einige deutsche Familien, deren Kinder während der Militärdiktatur verschleppt und ermordet wurden. Aber ich kann wirklich nicht darüber sprechen. Bitte verstehen Sie das, Frau Battin. Es würde mir dennoch sehr helfen, wenn Sie mir erzählen würden, was sich vor Damián Alsinas Selbstmord in Buenos Aires abgespielt hat. Haben Sie dort längere Zeit mit ihm verbracht? Wissen Sie, mit wem er Kontakt hatte?«
»Nein. Ich traf ihn am Tag vor dem Unfall unter recht eigenartigen Umständen am Flughafen.«
»Was für Umstände?«
Sie wusste, dass es nicht klug war, so direkt zu fragen, aber sie konnte sich nicht zurückhalten.
»Warum können Sie mir nicht sagen, was Damián von Ihnen wollte? Er hat die Verbindung zu Ihnen abgebrochen. Sie wurden nicht einmal über seinen Unfall informiert. Woher weiß ich, dass es in seinem Interesse ist, dass Sie erfahren, was sich in Buenos Aires zugetragen hat?«
Der Anwalt schüttelte den Kopf und erhob sich. »Es tut mir Leid, Frau Battin. Ich habe Verständnis für Ihre Neugier. Aber ich denke, es ist besser, wir beenden dieses Gespräch. Ich begleite Sie hinaus.«
Giulietta blieb sitzen und schaute ihn an. Der Mann musste so reagieren. Er kannte sie ja nicht. Aber hier irgendwo lag die Antwort auf alles. Oder zumindest der Teil davon, den sie brauchte, um sich den Rest zusammenzureimen. Auch Kannenberg fehlten offenbar Informationen. Warum hatte er sie sonst so dringend gebeten, sich mit ihm zu treffen? Ob sie etwas wusste, das ihn interessieren könnte? Sie hatte nur eine einzige Information anzubieten. Aber sie musste es riskieren.
»Ich war gekommen, um eine Aussage zu machen«, sagte sie. »Möchten Sie nicht wenigstens erfahren, worüber?«
»Nicht unter diesen Umständen.« Er war bereits an der Tür.
»Auch nicht, wenn ich Ihnen sage, wo Sie Markus Loess finden können?«
Kannenberg drehte sich langsam zu ihr um und wollte etwas bemerken. Aber er öffnete nur kurz den Mund und schloss ihn dann wieder.
Giulietta stand auf. Plötzlich bekam sie Angst vor ihrer eigenen Dreistigkeit. Worauf hatte sie sich nur eingelassen? Wo endete diese Geschichte nur? Der Anwalt war
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