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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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abgeschlossen.«
    »Dann kennen Sie Marina Francis?«
    »Ja. Natürlich.«
    »Großartige Frau, nicht wahr? Ich habe sie in
Romeo und Julia
gesehen. Fantastisch.«
    »Ich werde es ihr ausrichten. Das wird sie freuen.«
    Er musterte sie kurz, richtete sich dann auf seinem seltsamen Stuhl auf und legte die Fingerspitzen aneinander.
    »Nun, Frau Battin, Sie haben sich nach Damián Alsina erkundigt. Dürfte ich fragen, warum?«
    »Ich war gut mit Herrn Alsina befreundet. Kurz vor seinem tödlichen Unfall habe ich erfahren, dass er …«
    »Tödlich verunglückt?«, fragte er alarmiert. »Wann?«
    »Am 5. Dezember letzten Jahres. In Buenos Aires.«
    Sie schilderte in groben Zügen die Unfallumstände. Der Mann schien schockiert, kontrollierte sich jedoch.
    »Das kann doch nicht … das ist ja schrecklich!« Er blickte vor sich auf den Tisch und schob einige Papiere hin und her. »Waren Sie enger mit ihm befreundet … ich meine …«
    »Ja«, beantwortete Giulietta den unausgesprochenen Teil der Frage. Der Mann war ein wenig eigenartig, aber er flößte ihr Vertrauen ein. Und wenn sie etwas von ihm erfahren wollte, musste sie ihm entgegenkommen. Sie öffnete ihre Handtasche und holte die Zeitungsausschnitte hervor, die Lindsey ihr geschickt hatte. »Können Sie Spanisch?«
    Er nickte.
    »Hier. Bitte.«
    Er betrachtete die Überschriften und überflog die Artikel. »Und Sie waren in Buenos Aires, als der Unfall geschah?«
    Sie nickte.
    »Sie wussten gar nichts davon?«, fragte sie.
    »Nein.« Er legte die Fingerkuppen wieder aneinander und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Dann atmete er tief durch und betrachtete die Unfallfotos.
    »Das ist ja furchtbar …«, sagte er ernst. »Ich frage mich schon seit geraumer Zeit, warum ich nichts von ihm höre …« Er verstummte, griff dann nach dem Telefon, überlegte es sich jedoch anders und legte den Hörer wieder auf die Gabel zurück. Dann stand er auf.
    »Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick. Ich bin gleich zurück. Oder haben Sie es eilig?«
    »Nein. Ich habe Zeit. Bitte, wenn Sie ungestört telefonieren möchten, warte ich gerne draußen.«
    »Nein, machen Sie es sich gemütlich. Es dauert nicht lange.« Damit verschwand er mit den Zeitungsausschnitten im Nebenzimmer und schloss hinter sich die Tür.

17
    G iulietta ließ ihren Blick über den Berg von Akten und Büchern streifen. Sie ging an den Regalen entlang und studierte die Titel. Human Rights Watch. Amnesty-International-Jahresberichte. Lateinamerika-Nachrichten. UN -Summary Reports. Neben der Tür hing eine Pinnwand mit Zeitungsausschnitten, Fotos und Notizzetteln. Auf einem der Fotos war Herr Kannenberg neben einer älteren Frau zu sehen. Die Frau trug ein weißes Halstuch und lachte in die Kamera. Im Hintergrund erkannte Giulietta das Kongressgebäude von Buenos Aires. Herr Kannenberg schaute gerade zur Seite. Dann entdeckte sie das gleiche Foto in einem Zeitungsausschnitt, der ebenfalls an der Pinnwand hing. Sie überflog den Artikel und las die Bildunterschrift: Hebe Bonafini, Präsidentin der Madres de la Plaza de Mayo mit Nikolaus Kannenberg, Berlin. Der Artikel berichtete von einem Arbeitsbesuch des Anwalts im Zusammenhang mit einer Initiative der Deutschen Juristenvereinigung, das Schicksal der während der Militärdiktatur in Argentinien verschwundenen Deutschen und deutschstämmigen Argentinier zu klären. Daneben hing eine Liste mit Namen. Jeckel, Kegler-Krug, Kramer, Lüdden, Möller, Ortmann … Ortmann? Sie las die ganze Eintragung. Ortmann, Federico. Geboren am 24. 04. 1960. Schüler. War das Ortmanns Sohn? Ein Verschwundener? Sie las jetzt die ganze Liste. Die meisten Opfer waren um 1955 geboren. Sie überflog die spärlichen Eintragungen neben den Namen. Studentin, Arbeiter, Mediziner, Lehrerin für Taubstumme, Schülerin, Arbeiter. Alle waren zwischen 1976 und 1979 verschwunden. An letzter Stelle stand: Käsemann, Elisabeth: ermordet am 24. 05. 1977.
    Sie setzte sich wieder hin. Sie spürte ein flaues Gefühl im Magen. Die deutschen Verschwundenen? Sie verstand überhaupt nichts mehr. Was hatte Deutschland mit der Militärdiktatur in Argentinien zu tun? Ihre ganzen Mutmaßungen der letzten vierundzwanzig Stunden wurden durch diesen neuen Aspekt nur noch weiter verwirrt. Sie nahm wieder Platz und überlegte. Damián hatte diesen Anwalt mit irgendeiner Sache beauftragt. Doch würde er ihr darüber Auskunft geben?
    Sie versuchte, klar zu denken, doch von welcher Seite auch immer

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