Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Sonst sprach er ein lupenreines Hochdeutsch. Er trank einen Schluck Bier, und Giulietta überlegte, worüber sie eigentlich reden sollten. Aber Heert sprach schon wieder.
»Ich habe Tango-Suite schon dreiundzwanzigmal einstudiert«, sagte er. »Ich dachte, ich kenne jedes Detail. Aber man lernt nie aus.«
»Ist das Stück so alt?«
»John hat es 1978 geschrieben. Für einen argentinischen Freund, einen Tänzer, der während der Militärdiktatur ermordet wurde.«
Giulietta runzelte die Stirn. »Ermordet? Von wem?«
»Von der Regierung. Wie Tausende andere auch.«
Giulietta schwieg ein Augenblick. Sie dachte an die Liste in Kannenbergs Büro.
»Ich verstehe das einfach nicht«, sagte sie dann. »Was war denn nur los in diesem Land?«
»Krieg«, sagte Heert trocken. »Nur dass die eine Seite unbewaffnet war.«
»Welche Seite?«
»Gewerkschafter. Journalisten. Studenten. Bürger eben, die an den unerträglichen sozialen Missständen etwas ändern wollten.«
»Und John Beckmanns Freund wurde auch deshalb ermordet?«
»Er wurde mit verbotener kommunistischer Literatur erwischt.«
Giulietta schüttelte ungläubig den Kopf. »Ermordet … wegen einem Buch?«
Giulietta konnte es nicht fassen.
»Er war auf dem Nachhauseweg und geriet mit dem Bus in eine Militärkontrolle. Alle Fahrgäste mussten aussteigen. Die Soldaten stellten den Bus auf den Kopf und fanden eine Plastiktüte mit verbotenen Büchern. Marx. Engels. Freud. Reich. Was man eben damals so gelesen hat.«
»Und wieso trug jemand diese Bücher mit sich herum, wenn sie verboten waren?«
»Eben weil sie verboten waren, musste man sie aus dem Haus schaffen. Manche Leute verbrannten ihre Bücher. Andere vergruben sie irgendwo.«
»Und was geschah dann?«
»Die Soldaten wollten wissen, wem die Tüte gehörte. Als sich niemand meldete, drohten sie, einen Fahrgast nach dem anderen zu erschießen, sollte der Besitzer der Tüte sich nicht melden. Sie zwangen den Fahrer in die Knie und richteten einen Gewehrlauf auf sein Genick. Der Mann begann vor Angst zu schluchzen. Daraufhin trat eine junge Frau vor und sagte, es sei ihre Tüte. Wahrscheinlich war sie Studentin. Sie wurde sofort verhaftet. Dann wurden die anderen Fahrgäste durchsucht. John Beckmanns Freund muss auch irgendetwas dabeigehabt haben, das sie misstrauisch gemacht hat. Er wurde ebenfalls verhaftet und ist nie wieder aufgetaucht. Verschwunden.«
»Diese Diktatur war völlig durchgedreht. Sogar
Der Kleine Prinz
stand auf dem Index.«
»Was …?«
»Ja. Das galt als subversiv. In Argentinien wurden Leute ermordet, weil sie eine Brille trugen oder weil sie im Adressbuch einer Person standen, die eine Brille trug. Es sind Leute verschwunden, weil jemand während der Folter ihren Namen herausgebrüllt hatte, nur damit die Folter endlich aufhörte. Die Situation vor dem Putsch 1976 war schlimm. Das Land stand am Rande eines Bürgerkriegs. Aber was danach kam, davon kann man sich überhaupt keine rechte Vorstellung machen. Beckmann hat das alles mitverfolgt. Dieser Tänzer war ein sehr guter Freund von ihm. Sein Verschwinden hat ihn furchtbar getroffen. Wir waren alle fassungslos und erkannten auf einmal, was dort drüben vor sich ging. Wir haben Protestmärsche organisiert. Briefe geschrieben. Aber es war wie verhext. Niemand wollte etwas gegen diese Massaker unternehmen. Heute ist das alles längst vergessen. Deshalb versteht ja auch niemand die politische Botschaft von Beckmanns Stück. Die Gruppenszene am Anfang … diese Musik … ich muss dabei immer an dieses Mädchen denken und an den Busfahrer. Ich inszeniere das vor vollen Häusern, aber kein Kritiker hat auch nur den Schimmer einer Ahnung, was da getanzt wird. Und die Tänzer erst recht nicht. Ihr seid ja alle so jung. Ihr habt das nicht erlebt.«
Giulietta unterbrach ihn: »Warum erklärst du es uns dann nicht? Damit wir endlich einmal eine Ahnung haben?«
Heert machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das habe ich früher gemacht. Aber das ist vorbei, Giulietta. Ich bin in einer anderen Zeit groß geworden. Ich war auch Tänzer, ja. Aber wir wollten eine bessere Welt und nicht nur ein besseres Engagement. Und heute? Heute macht man sich ja lächerlich, wenn man Kunst und Politik verbinden will. Für die meisten von euch bin ich doch ein verkrachter Achtundsechziger.«
»Dann erzähle es doch wenigstens mir. Ich würde wirklich gerne wissen, warum Beckmann dieses Stück gemacht hat.«
Er schaute sie skeptisch an. »Weißt du
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