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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Hände in die Hüften gestemmt und blickte an ihm vorbei auf die Stereoanlage, wo das nächste Stück zu spielen begonnen hatte. Heert setzte die CD zurück und versuchte nun selbst, den Anfang von
Escualo
zu tanzen. Er bat sie, ihm die Eröffnung zu zeigen, Schritt für Schritt. Sie tat es. Sie zeigte ihm, was er falsch machte.
    »Es ist kein Stolz in der Bewegung«, sagte sie. »Es ist etwas Schleppendes, Schweres, eine Art Niedergeschlagenheit.«
    Sie erzählte ihm von der Stimmung in den Milongas von Buenos Aires. Von der Freudlosigkeit, von der stillen Verzweiflung in den Gesichtern.
    »Ich verstehe das nicht«, erwiderte er genervt. »Wie kommst du darauf? Tango ist Leidenschaft, Temperament, Wollust. Der erste Tanz, bei dem Mann und Frau sich öffentlich umarmten.«
    »Das schon«, erwiderte sie. »Aber es ist auch die erste Umarmung, die folgenlos bleibt.«
    Sie verstummte und schaute zur Seite. Dann fügte sie hinzu: »Tango entsteht aus Verzweiflung und endet darin. Es ist die Vorbereitung all dessen, was nie geschieht, eine Erinnerung an etwas, das niemals war.«
    Heert sah sie erstaunt an. Giulietta wich seinem Blick aus. Die peinliche Stille erschien ihr endlos.
    »Was hast du eigentlich in Buenos Aires gemacht?«, fragte er endlich.
    »Ich will darüber nicht sprechen.«
    Sie setzte sich auf den Boden und begann, die Bänder ihrer Schuhe zu lösen.
    Heert setzte sich neben sie und sagte: »Weißt du, was du da eben getanzt hast?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Giuliettango.«
    Sie erwiderte nichts.
    »Es ist wirklich ein Jammer, dass John das nicht sehen kann«, fuhr er fort.
    Das Kompliment war ihr peinlich.
    »Kanntest du ihn gut?«
    »Ja. Das kann man sagen. Tango-Suite war sein ehrgeizigstes Stück. Er war besessen davon. Er hat mir nächtelang davon erzählt. Von Piazzolla. Von diesem Horror in Argentinien, und dass er daraus ein Stück machen wollte.«
    Giulietta zuckte innerlich zusammen. Aber die Frage kam wie von selbst aus ihrem Mund. »Was meinst du damit?«
    »Wenn ich dich tanzen sehe, dann denke ich immer, ich höre John von Argentinien erzählen. Von der Gewalt, dem Terror. Es ist in der Musik. Aber die anderen Tänzer spüren das nicht. Man sieht es nur bei dir.«
    Giulietta erhob sich. Heert schaute zu ihr auf. Dann stand er ebenfalls auf und sagte: »Trinken wir noch etwas in der Kantine? Oder hast du’s eilig?«
    Gewalt. Terror. Argentinien.
    Die Worte lösten ein unheimliches Echo in ihr aus.
    »Ich dusche nur schnell. Bis gleich.«
    »Was trinkst du?«
    »Apfelsaft.«

19
    B evor sie die Kantine betrat, rief sie ihren Anrufbeantworter an. Es war eine Nachricht von Kannenberg auf dem Band. Der Anwalt bat dringend um Rückruf, auch falls es spät sein sollte.
    Er antwortete nach dem zweiten Klingeln.
    »Kannenberg.«
    »Hier ist Giulietta Battin.«
    »Ah, Frau Battin, ich bin froh, dass Sie anrufen.«
    Seine Stimme verriet Befangenheit. Offenbar hatte ihn das Ende ihrer letzten Begegnung verunsichert.
    »Es tut mir Leid«, begann sie, »wie ich reagiert habe, aber …«
    Er unterbrach sie. »Ich verstehe Sie«, sagte er. »Frau Battin, ich wollte Sie bitten, noch einmal vorbeizukommen. Könnten wir uns morgen treffen?«
    Sie zögerte. »Die nächsten Tage wird es schwierig. Ich habe Proben.«
    »Auch samstags?«
    »Ja.«
    »Es wird nicht lange dauern. Morgen Abend? Zwanzig Uhr?«
    Sie wurde nervös. Allein der Gedanke, wieder diesem Anwalt gegenüberzusitzen, seine Fragen beantworten zu müssen, erfüllte sie mit Unbehagen. Warum wollte Kannenberg nun doch mit ihr sprechen? Wegen Markus Loess? Eine unheilvolle, unfassliche Vorahnung beschlich sie.
    »Ich werde da sein«, sagte sie rasch. Dann legte sie auf und betrat die Kantine.

20
    H eert erhob sich, als sie an seinen Tisch trat. Es war für Giulietta seltsam, mit ihm allein zu sein. Er schien das zu spüren und sprach die Situation sofort an.
    »Ich hoffe, es ist dir nicht unangenehm, ein Glas mit mir zu trinken«, sagte er freundlich.
    Sie legte ihren Mantel ab.
    »Es ist mir nicht unangenehm«, sagte sie dann. »Danke für den Saft.«
    »Deinen Ruf habe ich ohnehin schon ruiniert«, sagte er scherzhaft. »Hast du Hunger?«
    Sie goss ihr Glas voll. »Nein. Überhaupt nicht.«
    Sie trank. Er musterte sie.
    »Wie gefällt dir Berlin?«, fragte sie dann.
    »Bis auf die Bürokratie in der Deutschen Oper: großartig.«
    »Woher kommst du eigentlich?«
    »Aus Nijmegen.«
    Heerts holländischer Akzent schimmerte bei diesem Wort durch.

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