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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Morden, und es verschwanden Unschuldige.«
    »Nein. Das kam erst später. Wir sind noch in der normalen Zeit, soweit man dort überhaupt von Normalität sprechen kann. Es herrschte ein unerklärter Bürgerkrieg zwischen staatlichen und oppositionellen Terrorgruppen. 1974 starb Perón. Isabelita, seine dritte Frau, politisch völlig unfähig und hoffnungslos überfordert, trat die Präsidentschaftsnachfolge an. Allmählich machte sich die innenpolitische Krise auch wirtschaftlich bemerkbar. Die Inflation stieg auf 700 Prozent. Im Vorjahr hatte sowohl in Chile als auch in Uruguay das Militär die Macht übernommen. Paraguay wurde schon seit Jahren von Stroessner diktatorisch regiert. In Brasilien war ebenfalls das Militär an der Macht. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Argentinien fallen würde. Am 24. März 1976 wurde Isabelita verhaftet und abgesetzt. Dann begann der so genannte schmutzige Krieg.«
    Er machte eine Pause, räusperte sich und trank einen Schluck von seinem Bier. Sie saßen völlig allein in der überheizten Kantine. Jemand musste die große Stahltür zur Hinterbühne geöffnet haben, denn aus der Ferne hörte man plötzlich gedämpft einige Takte aus
Cinderella
. Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, aber Heerts Schilderungen wirkten dadurch noch unheimlicher.
    »In einer beispiellosen, hoch organisierten Gewaltorgie wurden innerhalb von drei Jahren fünfundzwanzig- bis dreißigtausend Menschen entführt, gefoltert, ermordet und entweder in Massengräbern verscharrt oder aus Flugzeugen ins Meer geworfen. Leute wie du und ich. Sogar Jugendliche und Kinder sind verschwunden.«
    Heert unterbrach sich erneut. Giulietta hatte schon seit geraumer Zeit reglos auf den Boden gestarrt.
    »Noch einen Saft?«, fragte er.
    Sie nickte. Er verschwand kurz, legte bei seiner Rückkehr ein Päckchen Erdnüsse auf den Tisch und riss es auf.
    »Du wunderst dich bestimmt, dass ich über all diese Dinge überhaupt nicht Bescheid weiß, nicht wahr?«, sagte sie matt.
    »Nein. Überhaupt nicht. Wenn du hier jemanden fragst, was ihm beim Datum 1978 und Argentinien einfällt, dann wirst du in neun von zehn Fällen hören: Argentinien wird Fußballweltmeister. Dass zum gleichen Zeitpunkt Tausende von unschuldigen Menschen in über Buenos Aires verstreuten Konzentrationslagern saßen und gefoltert wurden, interessiert keinen. Auch damals nicht, obwohl es bekannt war. Menschenrechtsorganisationen riefen dazu auf, die Spiele zu boykottieren. Aber niemand störte sich daran, in Sichtweite von Konzentrationslagern Fußball zu spielen. Das ist eben diese sklavische Hörigkeit gegenüber der amerikanischen Außenpolitik. Wenn die Sowjetunion in Afghanistan einmarschiert, boykottiert man die Olympiade. Aber eine pathologisch grausame Militärdiktatur taugt durchaus für Fußballfreundschaftsspiele und als Gastgeber für Weltmeisterschaften. Nein, Giulietta, ich wundere mich überhaupt nicht, dass du das nicht weißt.«
    Er fixierte sie. Dann fügte er hinzu: »Was mich wundert, ist, dass du das so tanzen kannst.«
    Sie wich seinem Blick aus. Heert angelte sich ein paar Erdnüsse und wartete. Dann fragte er: »Hast du die Choreografie von
Escualo
gemacht?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Wer dann?«
    »Warum willst du das wissen?«
    Er zuckte mit den Schultern.
    »Weil es genial ist. Weil es genau das ist, was John gesucht hat. Aber er hat keine endgültige Form für seinen Zorn und seinen Schmerz gefunden. Tango-Suite ist das Äußerste für ihn gewesen, drei Minuten mit der Wirklichkeit eben. Das Maximum dessen, was man aushalten kann, wenn man die Wirklichkeit ernst nimmt.
Escualo
ist mehr. Es ist alles drin. Die Gewalt dieser Zeit. Die Verzweiflung. Das Höllengelächter derer, die zuschauen und nichts tun. Doch das Stück wächst über die Zeit hinaus, finde ich. Wer immer es gemacht hat, muss diese Zeit erlebt und überlebt haben.«
    Giulietta schüttelte den Kopf.
    »Die Choreografie stammt von einem argentinischen Tangotänzer, der sich letztes Jahr in Buenos Aires das Leben genommen hat.«
    Heert war überrascht von dieser plötzlichen Offenbarung und schaute betreten auf den Tisch.
    »Er war nicht viel älter als ich«, fügte sie hinzu. Dann erhob sie sich und ergriff seine Hand. »Danke für das Gespräch … ich muss jetzt gehen.«
    Er nickte stumm.

21
    D as Training am Samstag verlief ohne Zwischenfälle. Heert war dennoch gereizt. Vielleicht lag es daran, dass Maggie Cowler den letzten Tag ihrer Anwesenheit dazu

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