Drei Minuten mit der Wirklichkeit
ist er Ihnen zuerst aufgefallen?«
»Im Flughafenbus.«
»Und warum haben Sie ihn bemerkt?«
»Es waren nicht viele Leute in diesem Bus. Er hat mich angeschaut. Das war mir unangenehm. Er sieht einem Freund von mir ähnlich. Vielleicht deshalb.«
Ihre Hände verkrampften sich. Kannenberg fragte weiter. »Wo ist Ihnen dieser Mann sonst noch begegnet?«
Sie schilderte ihm die Orte. Er fragte wieder nach dem Datum. Er notierte sich alles. Dann zog er einen Umschlag aus einer Akte und schüttete den Inhalt auf dem Schreibtisch aus. Es waren Fotoaufnahmen. Von Gebäuden. Von Menschen. Von Dokumenten. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, sah sie das Gesicht dieses Mannes vor sich. Sie starrte ungläubig auf das Foto. Kannenberg genügte ein Blick in ihr Gesicht, um zu wissen, dass es der Mann war, den sie beschrieben hatte.
»… woher … wer ist dieser Mensch?«, brachte sie stoßweise heraus.
»Pedro Arquizo. Der Mann hat mehrere Gesichtsoperationen hinter sich und einige Kilo zugenommen. Außerdem trinkt er und ist daher etwas aufgedunsen. So hat er ausgesehen, als er in der ESMA gearbeitet hat, also vor etwa fünfundzwanzig Jahren.«
Ein weiteres Foto erschien vor ihr auf dem Tisch. Ein völlig fremder Mann schaute sie an. Schwarzes, volles Haar, dunkle Augen, eine fein geschnittene Nase und volle Lippen. Unmöglich, dass dies der gleiche Mensch sein sollte.
»Der Mann ist in Frankreich wegen Mordes zu mehrfach lebenslänglich verurteilt. Schweden sucht ihn auch. Außerhalb von Argentinien würde er sofort verhaftet, aber im Land selbst kann ihm auf Grund des Amnestiegesetzes nichts geschehen.«
»Was hat er getan?«
»Folter. Entführung. Mord. Erpressung. Vor allem war er an der Entführung und Ermordung einer schwedischen Touristin und einer Französin beteiligt.«
Sie schaute die beiden Fotos an.
»Er trägt helle Kontaktlinsen«, sagte der Anwalt trocken, »deshalb blinzelt er stark.«
Sie schob die Bilder von sich.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass das die gleiche Person sein soll. Und wenn dem so sein sollte, dann muss es sich in jedem Fall um einen Irrtum handeln. Warum sollte dieser Mensch mich verfolgt haben?«
»Weil er für Fernando Alsina arbeitet«, antwortete Kannenberg.
Dann zögerte er einen Augenblick, bevor er die nächste Ungeheuerlichkeit aussprach.
»Und vermutlich, weil er gehofft hat, dass Sie ihn zu Damián führen.«
27
S ie hörte apathisch die Nachrichten ab, die sich auf dem Anrufbeantworter angesammelt hatten, und beschloss, nicht mehr ans Telefon zu gehen. Ihr Vater hatte viermal angerufen. Gegen elf Uhr abends meldete sich Lutz. Die Botschaft, die er auf das Band sprach, war nicht ungewöhnlich. Nur seine Stimme klang ein wenig sonderbar. Er erkundigte sich nach den Proben und gratulierte ihr noch einmal zu ihrem Erfolg. Sie war versucht, den Hörer abzunehmen, ließ es jedoch bleiben. Er versprach, am Donnerstag zu kommen, und wünschte ihr viel Glück. Dann verstummte er, zögerte jedoch, bevor er einige Sekunden später auflegte.
Das letzte Gespräch mit Kannenberg hatte sie noch immer nicht zur Ruhe kommen lassen. Je länger sie über die Mutmaßungen des Anwalts nachdachte, desto zwingender erschien ihr die Logik der Vorgänge. Solange Damián unauffällig in seiner Tangowelt lebte, verschwendete Fernando Alsina kaum einen Gedanken an seinen missratenen Adoptivsohn. Doch der Vorfall in Berlin hatte eine ganze Kette von Reaktionen in Gang gesetzt. Der alte Alsina musste sich bedroht gefühlt haben, nachdem er durch ihren Vater von der Sache in Berlin erfahren hatte. Zumindest musste er versucht haben herauszufinden, ob Damián gegen ihn vorgehen wollte. Deshalb war sie beschattet worden. Sie war ein Lockvogel gewesen.
Was wäre geschehen, wenn dieser Pedro Arquizo Damián gefunden hätte? War Damián ihr deshalb ausgewichen? Konnte er sich ihr gar nicht nähern, weil er gemerkt hatte, dass dieser Arquizo immer in ihrer Nähe war? Wollte der alte Alsina Damián beseitigen lassen? War Damiáns Unfall gar kein Unfall gewesen?
Sie zermarterte sich den Kopf über jeden einzelnen Tag in Buenos Aires. Zu welchem Zeitpunkt konnte Damián erfahren haben, dass sie in der Stadt war? Vermutlich am Dienstag, nachdem sie Nieves im Almagro begegnet war. War Arquizo auch im Almagro gewesen? War er ihr auch zu Lindsey gefolgt? Am nächsten Tag hatte sie den irrsinnigen Plan gefasst, Nieves um Hilfe zu bitten. Ob Nieves Damián von dieser Begegnung erzählt hatte? Gab es in
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