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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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für das sie auch noch bezahlen musste, und den Rest des Tages überlegen, wie es mit ihrem Leben weitergehen sollte. Eine grausige Vorstellung. Aber die Realität war noch schlimmer. Das erste freie Training dieser Art war wie ein Blick in ihre eigene düstere Zukunft gewesen. An den anderen, die dort neben ihr standen, sah sie sofort, wie schnell es abwärts ging, wenn man einmal aus der Routine herausgefallen war. Das Erlebnis war deprimierend. Sie fuhr danach sofort in ihr Studio in der Gsovskystraße, warf Rimski-Korsakow in den CD -Player und tanzte fünfzig Minuten lang am Stück alleine durch den Raum. Sie wusste, dass sie allmählich Angst bekam. Das Gefühl bohrte in ihr, und die einzige Antwort, die sie darauf wusste, war ebenjene, die sie auf alles hatte: tanzen, weitermachen, die Angst wegarbeiten.
    Sie las zum x-ten Mal die Annoncen im
Ballett International
und strich sich Termine an, die sie zuvor verschmäht hatte. Da waren Landes- und Kleinstadttheater darunter, von denen sie nicht einmal wusste, in welcher Himmelsrichtung sie lagen. Die Warner Bros. Movie World suchte Leute für irgendeine Show in Oberhausen. Und natürlich gab es jede Menge freier Kompanien. Es war niederschmetternd. Sie wollte in
Giselle
tanzen oder in
Schwanensee
und nicht in irgendeinem modernen Hokuspokus oder einem amerikanischen Disney-Verschnitt.
    Und dann war das Wunder geschehen. Der Assistent der Ballett-Direktorin der Staatsoper hatte sie angerufen und ihr mitgeteilt, dass man sie zwar im Frühjahr hätte ablehnen müssen, dass nun aber aus einer Reihe interner Gründe eine Hospitantenstelle für sie frei wäre, falls sie noch Interesse hätte. Sie würde zwar nur dann bezahlt, wenn sie in einer Vorstellung für ein Ensemblemitglied einspringen würde, aber sie könne mittrainieren und das Repertoire lernen.
    Sie sagte auf Anhieb zu und schwor sich, diese Hospitantenzeit zu nutzen, um ein festes Engagement zu bekommen. Das war Ende Juli gewesen. Zwei Wochen später nahm sie bereits am Training teil, und kurz darauf liefen die ersten Proben.
    Und dann traf sie Damián.

3
    S ie war die Strecke von der Staatsoper bis zum Hackeschen Markt zu Fuß gegangen und betrat die Hackeschen Höfe gegen halb fünf. Es dämmerte bereits, als sie durch die Einfahrt ging. Sie kannte das Theater nicht, doch rechts von ihr entdeckte sie die Vorverkaufskasse, und die Kassiererin erklärte ihr den Weg.
    Der Eingang war leicht zu finden. Sie balancierte zwischen Bier- und Mineralwasserkisten hindurch, die dort gerade angeliefert wurden, und folgte der gewundenen Treppe in das Lokal hinauf.
    Valerie, eine Tänzerin aus Leipzig, die schon zwei Jahre im Ensemble der Staatsoper tanzte, hatte ihr den Tipp gegeben. Sie hatten über ein Stück gesprochen, das demnächst an der Deutschen Oper geplant war: John Beckmanns Tango-Suite. Giulietta sah sich aus purer Neugier die Videoaufzeichnung einer früheren Produktion an. Die Musik faszinierte sie, und sie hatte Lust verspürt, mehr darüber zu erfahren. Aber in ihrer Umgebung wusste niemand etwas über Tango.
    »Wenn du mit jemandem über Tango-Musik reden willst, dann geh doch zu dieser Truppe, die hier gastiert. Soviel ich weiß, proben die gerade für eine Aufführung im Herbst. Aber warum findest du die Musik schwierig?«
    »Nicht schwierig«, hatte Giulietta erwidert, »aber seltsam. Ich fände es komisch, zu einer Musik zu tanzen, über die ich nichts weiß. Geht dir das nicht so?«
    »Was gibt’s über Tango schon groß zu wissen? Machomusik. Ziemlich schmierig und todtraurig.«
    »Das dachte ich auch. Aber diese Musik ist ganz anders. Es ist eher wie Jazz. Klingt überhaupt nicht wie Tango. Hast du dir’s schon mal angehört?«
    »Nein, habe ich nicht, und habe ich auch nicht vor. Schließlich machen die das drüben an der Deutschen und nicht hier an der Staatsoper.«
    Giulietta hatte sich über das Vor-Mauerfall-Vokabular amüsiert.
Drüben!
Ob sich das jemals ändern würde? »Wie heißt denn diese Gruppe?«
    »Die Tango-Leute? Keine Ahnung. Aber ich kann es herausfinden, wenn du willst. Ich sage es dir morgen.«
    Am Abend war eine Botschaft auf ihrem Anrufbeantworter gewesen. »… also diese Gruppe heißt ›Neotango‹. Sie proben dienstags und freitags im
Chamäleon
am Rosenthaler Platz. Das ist so ein Kabarett-Theater in den Hackeschen Höfen. Du sollst nach Damián fragen. Er kann sogar Deutsch, obwohl er Argentinier ist. Ach ja, er soll sehr gut aussehen. Also Vorsicht, meine

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