Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Kleine, man weiß ja nie bei diesen Latinos … und Tango, wow … hmm da da … ciaoooo.«
An Valeries letzte Bemerkung hatte sie sich an jenem Freitag überhaupt nicht mehr erinnert. Sie hatte sich kein Bild von diesem Damián gemacht. Sie wusste nicht einmal, wie alt er war. Das Wort »Tangotänzer« löste keine besonders attraktiven Assoziationen in ihr aus. Darin hatte Valerie Recht gehabt. Tango, das hatte etwas Schmieriges, Wehleidiges und zugleich Geckenhaftes. Außerdem war sie auf alles vorbereitet gewesen, aber nicht auf eine solche Begegnung.
Sie drückte gegen die Flügeltüren, die leicht quietschend zurückschwangen. Sie betrat eine Art Foyer. Es war niemand da. Ein paar Sessel standen an den Wänden. Auf einem von ihnen lagen ein Mantel, ein dunkelroter Seidenschal und schwarze Fingerhandschuhe aus Leder. Daneben entdeckte sie ein Paar modische schwarze Halbschuhe mit abgeflachter Spitze. Die Schuhe waren blitzblank poliert. Auf einem anderen Stuhl lag eine Sporttasche, aus der ein grauer Wollpullover und Jeans heraushingen. Unter dem Stuhl stand ein Paar ausgetretene Turnschuhe.
Giulietta durchquerte den Raum, und auf halber Strecke setzte plötzlich Musik ein. Sie blieb stehen und lauschte. Es war wie ein Vorgeschmack auf das gewesen, was kurz darauf geschehen sollte. Die Musik war unwiderstehlich. Sie schloss kurz die Augen und stellte sich vor, wie sie sich hierzu bewegen würde. Aber seltsamerweise spürte sie nur ein starkes Bedürfnis, loszutanzen, ohne eine klare Idee darüber zu haben, wie. Diese Musik hatte etwas Schweres, etwas völlig Untänzerisches. Sie spürte Energieschübe, aber sie waren richtungslos. Es schimmerte etwas Afrikanisches hindurch, die beschwörende, tranceartige Monotonie von Trommeln. Es war eine gewisse Stimmung, die sie verstörte. Ballett war extrovertiert, rational, luftgeboren. Diese Musik erschien ihr introvertiert, grüblerisch, irrational und doch so erdverbunden wie ein Pflug. Aber gleichzeitig enthielt sie einen eigentümlichen Trost. Es war etwas von Dvořák darin, von Rachmaninow, und auch Zigeunermusik. Was sie da hörte, enthielt einen dunklen, erdverbundenen Zauber, wie manche Stücke aus der russischen oder ungarischen Volksmusik. Aber das traf es auch nicht genau. Deshalb war sie hierher gekommen. Sie wollte wissen, woraus diese Musik bestand.
Als sie das Theater betrat, sah sie es. Oder besser gesagt: sie sah eine mögliche Erklärung dafür, was sie gehört hatte. Sie war überrascht von dem Anblick, der sich ihr bot. Nicht, weil es ein wenig ungewöhnlich war, sondern umgekehrt, weil es so natürlich aussah. Sie hatte das eigenartige Gefühl, etwas bestätigt zu finden, das sie gar nicht vermutet hatte.
Vor der Bühne, auf dem leer geräumten Parkett, tanzte ein Mann mit einem Mann.
Sie mussten schon eine ganze Zeit gearbeitet haben, denn ihre weißen T-Shirts waren schweißnass. Sie trugen schwarze Hosen mit Hosenträgern und waren unterschiedlich groß. Der Größere von den beiden hatte kurzes Stoppelhaar, das schon von einem Grauschimmer durchzogen war. Er hatte einen gut gebauten Oberkörper, zu muskulös für klassischen Tanz, aber gut durchtrainiert und mit einer sehr schönen, geraden Linie vom Rückgrat zum Hinterkopf hinauf. Der andere Mann hatte langes dunkelbraunes Haar, das in der Mitte gescheitelt und am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz gebunden war. Sein Körperbau war schlanker, und neben seinem athletischen Tanzpartner wirkte er fast zierlich. Seine Bewegungen waren verhalten und kraftvoll. Die spürbare Energie zog Giulietta sofort in ihren Bann. Der schmale Tänzer schob den kräftigen Tänzer einige Schritte vor sich her. Sie berührten sich nicht, sondern vollführten spiegelverkehrt die gleichen Bewegungen. Hier fiel der Unterschied zwischen den beiden besonders auf. Der grazile Tänzer bewegte sich wie ein Raubtier, wie eine Wildkatze. Der Angegriffene widerstand ihm mit der überragenden Präsenz seines Körpers.
Giulietta setzte sich an eines der Marmortischchen, die neben der Tür zur Seite gestellt worden waren, und folgte stumm dem Schauspiel vor ihren Augen. Außer den beiden Tänzern schien niemand hier zu sein. Das Theater hatte wohl schon einmal bessere Zeiten gesehen, sich aber trotz herunterhängender Kabel und abblätternder Wandfarbe einen gewissen Charme erhalten. Gegenüber erkannte sie die Umrisse eines Tresens. Am Ende des Raumes erhob sich die Bühne, die allerdings von einem dunkelroten
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