Drei Minuten mit der Wirklichkeit
erzählt wurde. Aber das Drama vor ihren Augen schien direkt aus der Musik hervorzuwachsen, war wie dafür komponiert. Geige und Bandoneon heizten sich gegenseitig bis zur Unerträglichkeit auf, schwollen brausend an, bis die Violine allmählich das Übergewicht gewann, wie eine scharfe Klinge zwischen den brodelnden Fortissimi des Bandoneons aufblitzte, vorschnellte und dann sechsmal hintereinander jählings zustieß. Der Ältere stürzte in den Armen des Jüngeren auf die Knie, hob flehend die Arme. Die Violine spielte alleine weiter. Der kühle, erbarmungslose Geigenton glitt wie eine Viper durch den Raum, verschmolz wieder mit dem Bandoneon, schlängelte sich um den Sterbenden, hieb im Konzert mit dem schäumenden Balg des Bandoneons wie von Sinnen auf den noch zuckenden Körper ein, immer wieder, in rascher Folge, bis zum Schlussakkord, bei dem der jüngere Tänzer seinem bereits reglosen Widersacher ein letztes Mal mit voller Wucht sein Messer in den Leib rammte.
Giulietta lief ein Schauder den Rücken hinab.
Einige Sekunden geschah nichts. Die beiden lagen erschöpft übereinander auf dem Parkettboden und atmeten schwer. Das Geräusch eines zuschnappenden Verschlusses ertönte, und wie von Geisterhand erlosch die Leuchtdiode an der Videokamera. Dann hörte Giulietta über sich auf der Galerie Schritte und im gleichen Augenblick eine Stimme.
»Vaya. Bien.«
Der jüngere Tänzer erhob sich und machte der Person oben auf der Galerie mit gestrecktem Daumen ein Zeichen. Dann kam er direkt auf Giulietta zu, fing dabei ein Handtuch auf, das ihm von der Galerie aus zugeworfen wurde, trocknete sich das Gesicht ab und wickelte sich das Handtuch um den Nacken. Giulietta erhob sich. Dann stand er vor ihr. Doch nicht so klein und schmal, wie sie gedacht hatte. Der andere Mann musste ein richtiger Hüne sein.
»Hola«, sagte er, »vos sos de la tele?«
»Entschuldigen Sie, ich spreche kein Spanisch.«
»Aha. Dann bist du nicht vom Fernsehen. Umso besser.«
Er grinste breit mit der Sicherheit von jemandem, der weiß, dass er wunderschöne Zähne hat.
»Ich? Fernsehen? Nein, nein.« Sie lächelte verlegen. Was war nur mit ihr los? Warum sagte sie ihm nicht einfach, warum sie gekommen war? Sie wollte sich das Haar aus der Stirn streichen, aber natürlich war es immer noch hinter ihrem Kopf zu einem Dutt gebunden, so dass ihre Geste sinnlos wirkte. Sie versuchte etwas zu sagen, ohne ihn zu aufmerksam zu mustern. Aber genau das vermochte sie nicht. Sie empfand keine Fremdheit gegenüber diesem Mann. Eine alarmierte Stimme in ihr sagte: Verschwinde sofort von hier! Jetzt sofort! Aber das ging ebenso wenig.
»Verzeihen Sie bitte, dass ich hier einfach so hereingeplatzt bin …« Er hob abwehrend die Hände.
»Damián Alsina«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen.
»Ich heiße Giulietta«, sagte sie schnell, »Giulietta Battin. Ich bin Tänzerin an der Staatsoper. Valerie, eine Kollegin, sagte mir, dass Sie hier Tango proben …«
Er ergriff sie sanft am Arm und führte sie in den Saal hinein, während sie auf ihn einsprach. Giulietta spürte den erhitzten Körper des jungen Tänzers neben sich. Er sah sie die ganze Zeit an, während sie seinen Blicken auswich. Der andere Mann lag noch am Boden, richtete sich jetzt schnell auf und schaute ihnen entgegen.
»… und da wir demnächst ein Tangostück planen, dachte ich, es wäre vielleicht nicht schlecht …«
»… sich argentinischen Tango anzuschauen. Eine sehr gute Idee. Lutz. Darf ich vorstellen: Señorita Giulietta, bailarina clásica. Señor Lutz.«
Jetzt lächelte er auf eine Weise, die ihr sagte, dass er seine Wirkung auf sie genau gespürt hatte. Sie gab dem anderen Mann die Hand.
»Hallo«, sagte dieser weder freundlich noch unfreundlich. Sonst sagte er nichts, schaute sie nur ein wenig verwundert an. Er war wirklich groß, mindestens einsneunzig. Sie wäre am liebsten in den Boden versunken.
»Und dort oben ist unser Techniker, Charlie.«
Der Angesprochene hing mit gekreuzten Armen über dem Geländer, beobachtete die Szene und nickte gleichgültig.
»Machen wir noch einen Durchlauf oder ist Pause?«, fragte er.
»Ich glaube, ich warte besser draußen, bis Sie fertig sind«, sagte Giulietta unsicher. »Ich will wirklich nicht stören.«
Der Mann, der Lutz hieß, ließ sich auf einem der Stühle nieder und zog umständlich einen Wollpulli über.
»Du machst also auch ein Tango-Stück. Dann sind wir ja Konkurrenten«, sagte Damián jetzt.
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