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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Samtvorhang verdeckt war. An der Decke waren zwar fast alle Paneelbretter heruntergefallen, aber dafür hing dort eine beeindruckende Ansammlung von Bühnenscheinwerfern. Auf einem Stuhl, der vor dem Vorhang auf der Bühne stand, war mit braunem Klebeband eine Videokamera befestigt worden, deren Objektiv auf das Parkett vor der Bühne gerichtet war. Eine Leuchtdiode neben der Linse strahlte intensiv rot, was wohl bedeutete, dass gefilmt wurde.
    Ich bin direkt ins Bild hineingelaufen, dachte sie. Sie fühlte sich jetzt auch ein wenig befangen. Sie war einfach hier hereingekommen, ohne Voranmeldung, ohne gefragt zu haben. Da probten zwei Tänzer miteinander und sie nahm einfach hier Platz und schaute zu. Aber jetzt aufzustehen und wieder hinauszugehen, wäre noch seltsamer gewesen. Der grazile Tänzer hatte sie bereits bemerkt. Einen kurzen Augenblick hatte er zu ihr herübergeschaut. Sein Gesicht war ernst, abweisend und unzufrieden. Aber das war hoffentlich nur Ausdruck seiner Konzentration. Sie hätte draußen warten und anklopfen sollen, als die Musik aussetzte, anstatt mitten in eine Probe hineinzuplatzen.
    Da sie nun schon einmal hier war, verharrte sie auf ihrem Stuhl und schaute zu. Sie wusste aus eigener Erfahrung, wie das war, wenn man probte und plötzlich Zuschauer auftauchten. Es störte erst ein wenig, aber manchmal strengte man sich automatisch mehr an. Sie lauschte neugierig der Musik und musterte die Bewegungen der beiden Tänzer.
    Das Stück hatte etwas Atemloses, Ungeduldiges und Gehetztes. Man spürte sofort: was hier im Gang war, würde ein schlimmes Ende nehmen. Die beiden Männer kämpften miteinander. Der Jüngere verfolgte den Älteren wie ein aufgebrachtes Tier. Die rauen, hart angeschlagenen Bandoneonakkorde ließen Giulietta an eine Hornisse denken, an das aggressive Brummen eines angreifenden Insekts. Aber der Ältere wollte offenbar auch etwas von dem Jüngeren, das dieser ihm jedoch vorenthielt. Es war ihr noch nicht so ganz klar, was für einen Streit die beiden miteinander austrugen, aber anscheinend konnte das Ganze nicht durch einen Austausch der begehrten Dinge geregelt werden. Jeder der beiden wollte nur haben und nicht geben. Die Musik tat ihr Übriges dazu, den Konflikt anzustacheln: eine nervöse, zuckende Melodie, fast übertrieben rhythmisiert, mit grellen, beinahe schmerzhaft dissonanten Violinenläufen, die nur bisweilen durch kurze, versöhnlichere Stellen unterbrochen wurden. Indessen verschwand jedoch keinen Augenblick lang die Grundstimmung einer tödlichen Gefahr.
    Giulietta betrachtete fasziniert den jüngeren Tänzer und die heimtückische Eleganz seiner Bewegungen, die den Älteren mehr und mehr in Bedrängnis brachten. Er umkreiste ihn wie ein hungriger Wolf, schnitt seine Fluchtbewegungen ab und ließ ihn seinen unbeugsamen Willen spüren, die Sache in seinem Sinne zu Ende zu bringen. Was die beiden wirklich voneinander wollten, war Giulietta erst klar geworden, als die Musik plötzlich kurz aussetzte und das Tanzpaar einige Sekunden lang in einer eindeutigen Stellung erstarrte: Der Ältere hatte den Jüngeren von hinten umarmt und ließ seine Hände langsam seinen Oberkörper hinab in dessen Schoß gleiten. Der Jüngere fuhr herum, stieß den Älteren von sich und tanzte einige grandiose Drohgebärden, die an Flamenco erinnerten. Ob sie vielleicht ins falsche Theater geraten war? Wenn das hier Tango sein sollte, dann hatte sie eine völlig falsche Vorstellung von diesem Tanz gehabt.
    Der ältere Tänzer wandte sich verletzt ab. Dann sammelte er sich wieder. In den nächsten Sequenzen wurde allmählich sichtbar, was für ein Tauschgeschäft hier im Gang war. Der Jüngere brauchte Geld, und der Ältere wollte es ihm nur geben, wenn der Jüngere mit ihm schlafen würde, ein Ansinnen, das den Jüngeren rasend zu machen schien. Offenbar war es von äußerster Wichtigkeit für den Jüngeren, das Geld sofort zu bekommen. Er schien unter enormem Zeitdruck zu stehen. Der Ausdruck seiner Gebärden war gerade so, als hörte man einen Zeitzünder ticken. Dann wurde er auf einmal gelöster, entspannter, ließ den Älteren wieder mehr in seine Nähe, umgarnte ihn, ohne dass der Zuschauer eine Sekunde daran zweifeln würde, dass dieser versöhnliche Pas de deux ein gemeiner Hinterhalt war. Das war enorm spannend gemacht, diese Täuschung des Älteren, der blind in die Falle läuft.
    Giulietta hörte diese Musik zum ersten Mal. Sie hatte keine Ahnung, welche Geschichte hier

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