Drei Minuten mit der Wirklichkeit
der Tür, hingehen, aufmachen, aber erst andere Musik, nein, von wegen, das sähe ja so aus, als wollte sie hier etwas inszenieren, ein letzter Blick in den Spiegel, ob er sie schön fände? Bevor alles verschwommen wurde, hatte sie noch an ihre Großmutter gedacht und deren Bemerkung über ihre Eltern, vor allem jedoch über Markus, ihren Vater. Markus sei ein schöner Mann, hatte sie einmal gesagt. Ihre Tochter, Giuliettas Mutter, sei zugegebenermaßen eine schöne Frau. Eine schöne Frau sei durchaus etwas Erfreuliches, ein schöner Mann hingegen ein kleines Wunder.
An den Rest erinnerte sie sich nur noch undeutlich. Als sie die Tür öffnete, war sie so aufgeregt, dass sie kaum Luft bekam. Als sie ihn sah, wusste sie, dass sie gar nicht vor ihm, sondern vor sich selber die meiste Angst haben musste. Dieser Mann war ein Wunder. Sie wollte ihn küssen. Sie wollte, dass dieser Mann sie küsste. Und das war völlig unmöglich. Sie kannte ihn doch überhaupt nicht. Und ebenso wenig kannte er sie. Warum lächelte er sie so selbstsicher an mit diesen hellen Augen, die grün oder blau waren und von denen sie nur eins wusste: sie konnte nicht genug von ihnen bekommen.
Damiáns Äußeres war nicht so ganz leicht einzuordnen. Wie ein typischer Lateinamerikaner sah er nicht aus. Weder hatte er dunkle Haut noch schwarze Haare. Seine Haut war sogar überdurchschnittlich hell. Oder lag das an den Augenbrauen, die einen Ton dunkler ausgefallen waren als sein Kopfhaar? Vielleicht hatte sie ja auch ein zu stereotypes Bild von Lateinamerikanern im Kopf? Er war einen Kopf größer als sie, also um die einsfünfundachtzig groß. Seine Figur, die jetzt unter seinem Mantel verschwunden war, hatte sie ja bereits im
Chamäleon
ausgiebig bestaunt. Sie konnte sich noch gut an den zwar grazilen, jedoch muskulösen Oberkörper erinnern, der sich unter dem durchgeschwitzten weißen T-Shirt abgezeichnet hatte. Eine ausgesprochene Tänzerfigur besaß er nicht. Aber noch seine geringste, nachlässigste Bewegung war rhythmisch und musikalisch.
Doch was sie an ihm faszinierte, hatte nur bedingt mit seinem Äußeren zu tun. Er sah gut aus, zugegeben, doch wie viele gut aussehende Männer hatten sich schon um sie bemüht? Sein Gesicht war schön geschnitten, ohne hübsch zu sein, und wirkte zugleich jung und männlich. Aber da war noch etwas, das sie zugleich anzog und beunruhigte. Er stand vor ihr, den dunkelroten Seidenschal links und rechts über die Schulter geworfen, den Mantel zugeknöpft, die abgestreiften Handschuhe in der linken Hand und ein wenig Schweiß über der vollen Oberlippe.
»Entschuldigung«, sagte er, »ich habe dich vorhin vertrieben, oder? Das tut mir Leid. Das wollte ich nicht. Das mit der Konkurrenz, das war natürlich Unsinn. Also, wenn du etwas über Tango wissen willst, hier ist meine Karte. Ruf mich an, wenn du magst, einverstanden?«
»Wie haben Sie … woher hast du meine Adresse?«
Er grinste. »Ich kann hellsehen.«
»Ah ja.«
»
Espezialist
für Einmaligkeiten. Giulietta Battin. Gsovskystraße 31. Gibt es nur einmal in Berlin.«
Er tippte sich an die Stirn. »Telefonbuch.«
Er hielt ihr eine Visitenkarte hin. Sie schaute auf die Karte, dann auf sein Gesicht. Plötzlich überkam sie eine eigenartige Ruhe. Sein Akzent war stärker geworden.
Espezialist
? Und er rollte das R hörbar.
»Magst du was essen?« Das war einfach so aus ihrem Mund gekommen. Sie trat einen Schritt zur Seite. Essen? Wieso essen? Sie hatte »trinken« sagen wollen.
Er legte den Kopf schief. »Bueno …«, sagte er unsicher.
Er war auch nervös. Auf seine Weise. Sie hätte ihn dafür umarmen können. Seine Stimme bebte ein wenig. Seine Schläfen pochten. Und er schwitzte. Sie nahm all ihren Mut zusammen, drehte sich um und ging in ihr Studio hinein. Als sie in die Küche abbog, hörte sie, wie die Tür leise ins Schloss fiel. Sie öffnete den Kühlschrank, holte ein Flasche Weißwein heraus und goss schnell zwei Gläser voll. Als sie sich umdrehte, stand er mit dem Rücken zu ihr im Raum und sah sich um. Er hatte seinen Mantel ausgezogen und hielt ihn lässig unter dem linken Arm. Sie sah, dass er ein dunkelgrünes Hemd trug. Die Ärmel waren hochgekrempelt. Seine Hose schmiegte sich eng um sein Gesäß und ließ recht genau erkennen, welche ansprechende Form es unter dem Stoff hatte.
Giulietta schluckte. Sie wusste bis heute nicht, was sie in jenem Augenblick gesehen hatte. Ihr Herz hatte wild zu schlagen begonnen. Es war eine
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