Drei Minuten mit der Wirklichkeit
»Das interessiert mich. Bleib doch noch einen Moment hier, bis wir das Video angeschaut haben, dann erzählst du mir vom Tango an der Oper, einverstanden? Lutz, kommst du mit hoch?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um, ging zur Videokamera auf der Bühne und nahm das Band heraus. Dann steuerte er auf die Treppe zu, die zur Galerie hinaufführte, und verschwand aus Giuliettas Blickfeld.
Giulietta blieb unschlüssig stehen. Damiáns Deutsch war ausgezeichnet, bis auf einen leichten Akzent. Er musste wohl schon seit einer Weile in Deutschland leben.
Lutz hatte sich erhoben und trocknete sich das Gesicht ab.
»Tanzt du Gruppe oder auch Solo?«, fragte er trocken.
»Gruppe ohne Solo«, erwiderte sie ohne besondere Lust, es besser klingen zu lassen, als es war. »Ich bin kein festes Ensemblemitglied. Ich hospitiere und helfe aus. Das ist alles.«
Jetzt lächelte er. »So war das nicht gemeint. Ich war auch mal an der Staatsoper. Deshalb frage ich. Ihr habt eine neue Direktorin, nicht wahr?«
Giulietta nickte. »Wann warst du denn im Ensemble?«
»Ist ’ne Weile her und hat auch nicht lange gedauert. Wendeopfer.«
Er mimte einen Halsschnitt. »Aber ich hab da sowieso nie so richtig reingepasst, den Prinzen spielen und Nymphen herumlüpfen und so weiter. Nicht mein Ding. Eines kann ich dir sagen: Tango und Ballett, das wird nix. Welches Stück macht ihr denn?«
»John Beckmann. Tango-Suite. Aber nicht an der Staatsoper. Es ist an der Deutschen geplant.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Gehört habe ich davon, aber nie was gesehen.«
»Was ihr da eben getanzt habt, war doch Tango, oder?«
»Das kommt ganz darauf an, wen du fragst.«
»Aber die Musik ist Tango?«
»Dazu gibt es auch ziemlich viele Meinungen. Aber das kann dir Damián besser erklären als ich.«
»Wie heißt denn das Stück?«
»Die Musik oder die Oper?«
»Oper?«
»Na ja, Damián nennt es
operita
, kleine Oper. Das war ein Ausschnitt. Die Musik heißt
Escualo
. Von Piazzolla. Kannst du Spanisch?«
Giulietta schüttelte den Kopf.
»Woran hast du gedacht, als du die Musik gehört hast?«, fragte er.
»Hornissen«, sagte sie ohne zu zögern.
»Gar nicht schlecht«, erwiderte er.
»Und … was heißt
escualo
?«
»Haifisch«, antwortete er. »Ich muss jetzt da hoch. Bis gleich.«
Sie setzte sich und schaute ihm hinterher, wie er das Parkett überquerte. Dann wanderte ihr Blick zur Galerie hinauf. Da war Charlies Rücken. Er war über irgendein Gerät gebeugt. Damián lehnte neben ihm an der Brüstung und schaute zu ihr herab. Als ihre Blicke sich trafen, verschränkte er die Arme und verzog keine Miene. Sie war sich sicher, dass er sie die ganze Zeit beobachtet hatte. Als Lutz im Hintergrund auftauchte, drehte er sich zu ihm um.
Giulietta stand auf und ging langsam auf den Tisch zu, an dem sie vorhin gesessen hatte. Dann nahm sie ihre Tasche und eilte in das Foyer hinaus. Sie durchquerte es rasch und begann plötzlich zu laufen, die Treppe hinab und dann durch den Hof bis auf die Rosenthaler Straße, wo sie das nächstbeste Taxi anhielt und hineinsprang. Es war keine Gewohnheit von ihr, tagsüber ein Taxi zu nehmen. Aber sie wollte einen Schutz um sich herum spüren. Sie fühlte sich, als schwimme sie in einem See oder Meer, aus dessen Tiefe jeden Augenblick etwas Unbekanntes nach ihr schnappen könnte.
Und das Schlimmste daran war: Sie konnte kaum erwarten, dass es geschah.
4
D ie Frage, ob sie
beef
oder
chicken
für ihr Abendessen bevorzugte, riss sie aus ihren Gedanken. Sie entschied sich für Huhn, obwohl sie noch immer wenig Hunger verspürte. Als die Aluminiumschale mit dem bestellten Essen vor ihr stand, verging ihr auch noch der restliche Appetit, und sie aß lediglich etwas Brot mit Butter und Salz. Dann probierte sie den »Fruchtsalat«, eine Ansammlung von undefinierbaren gelben und orangefarbenen Würfeln in einer zuckrigen, gallertartigen Soße. Nach drei Löffeln hatte sie auch davon genug, breitete angeekelt ihre Papierserviette über dem Tablett aus und bestellte einen Tomatensaft.
Draußen war es noch immer hell, obwohl es nach ihrer Armbanduhr bereits neun Uhr abends war. Das kleine Flugzeug auf dem Bildschirm verließ soeben die Iberische Halbinsel und machte Anstalten, in den Südatlantik einzutauchen. Giulietta versuchte sich vorzustellen, wie bei einem solchen Flug nach Westen die Zeit gedehnt wurde. Streng genommen war ja zu keinem Zeitpunkt genau feststellbar, wann welche Uhrzeit galt, wenn die
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