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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Uhr alle paar Stunden um eine Stunde zurückfiel. Sie erinnerte sich dunkel an den Zusammenhang von Zeit und Bewegung, dass die Zeit langsamer verging, je schneller man durch den Raum flog, und wenn man nur schnell genug war, käme man theoretisch wieder in der Vergangenheit an.
    Genau dies war jetzt ihr sehnlichster Wunsch, die Augen zu schließen, durch ein flirrendes Beschleunigungsgewitter hindurchzufliegen und an jenem vierundzwanzigsten September in Berlin vor ihrem Studio in der Gsovskystraße aus dem Taxi zu steigen, die Treppe hinaufzurennen, in ihr Studio hineinzustürmen, ihre Tasche in die Ecke zu werfen und in voller Lautstärke
You’ve got the power
zu hören. Sie war ins Bad gelaufen, hatte sich die Jeans, Pulli und Unterhemd vom Leib gerissen und brühend heiß geduscht. Mit Jogginghose, T-Shirt und herunterhängenden nassen Haaren war sie dann barfüßig in den Wohnraum zurückgetanzt, hatte die Wiederholungstaste des CD -Players gedrückt, aus der Keramikschale neben dem Schlafsofa eine Kiwi geangelt und war dann laut singend in die Küchenecke gehüpft, wo sie am liebsten etwas umgeworfen hätte. Sie hatte telefonieren wollen, doch bei den ersten drei Nummern, die sie anwählte, erwischte sie nur Anrufbeantworter. Außerdem wusste sie gar nicht so recht, warum sie ihre Freundinnen anrief. Nein, sie wollte überhaupt nicht telefonieren. Sie wollte ausgehen, sich mit Aria oder Xenia in irgendeinem Nachtclub treffen, Alkohol trinken und dann bis zur völligen Erschöpfung tanzen. Sie warf sich auf die Schlafcouch, das Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt, eine halbe Kiwi im Mund, in der linken Hand das aktuelle Stadtmagazin mit den Veranstaltungslisten. Xenias Mobiltelefon war auch auf Anrufbeantworter geschaltet. Dafür nahm Aria ab, ihre alte Sandkastenfreundin aus Zehlendorf, die im Bundespresseamt ausländische Gäste betreute.
    »Ich kann heute Abend nicht. Ich bin mit zwanzig Togolesen auf dem Weg nach Potsdam. Wir kommen frühestens um elf zurück.«
    »Mist.«
    »Ist was passiert?«
    »Passiert? Nein. Ich würde nur so gerne ausgehen und finde niemanden.«
    »Wenn ich früher zurückkomme, rufe ich dich an. Wo willst du denn hin?«
    »Völlig egal. Ins WMF oder so.«
    »Ich rufe dich an, ja? Ich kann jetzt wirklich nicht. Tschau.«
    Sie legte das Handy geräuschvoll auf dem Couchtisch ab und begann, ihren Kleiderschrank auszuräumen. Dabei sah sie kurz auf die Uhr. Es war kurz vor sechs. Klar, vor sieben, halb acht würde sie niemanden erreichen. Ausgezeichnete Gelegenheit, die Abendgarderobe zusammenzustellen, zu baden, ausgiebige Maniküre zu machen, Haare zu waschen und zwischendurch irgendeinen Stuss im Fernsehen anzuschauen.
You’ve got the power.
    Dann stand sie im Slip vor der Couch und musterte die Auslage. Da lagen Blusen, Pullis, Hemden, Hosen, ein aufgerissenes Plastikpäckchen, aus dem schwarze Nylonstrümpfe heraushingen, und daneben ihr einziger Dressed-to-kill-Body, den sie soeben anprobieren wollte, als es klingelte. Sie zog schnell ein Unterhemd über, ging zur Tür und drückte den Knopf der Wechselsprechanlage. Das konnte nur ihr Vater sein. Er war der Einzige, der manchmal unangekündigt bei ihr auftauchte.
    »Ja. Paps?«
    »Señorita Giulietta? Hier ist Damián.«
    Sie würde das Gefühl dieses Augenblicks bis zu ihrem letzten Atemzug im Herzen aufbewahren. Sie hatte erschrocken die Hände vors Gesicht geschlagen, einige Sekunden lang keinen Ton herausgebracht, dann einfach lang und fest auf den Knopf gedrückt. Danach hatte sie etwa vierzig Sekunden Zeit gehabt, sich zu überlegen, ob das richtig war oder falsch, war allerdings gleichzeitig damit beschäftigt, die Klamotten auf der Couch aufzusammeln und in den Kleiderschrank zu stopfen, den Schrank zu verschließen, ihn wieder zu öffnen, einen Pulli herauszuziehen und schnell überzustreifen, außerdem eine Hose, aber welche, Jeans also, und dann ins Badezimmer zu eilen, einen schnellen Blick in den Spiegel zu werfen, ein Stück Zahnpasta aus der Tube zu saugen und mit Wasser im Mund herumzudrücken und gleich wieder auszuspucken, sich plötzlich zu ärgern, wie er es wagen konnte, einfach hier aufzutauchen, wie er sie bloß so schnell gefunden hatte und was er wohl von ihr wollte, dabei war ihr völlig klar, was es war, und sie wollte es auch, das war auch klar, und dann die Angst, die Nervosität, ich lasse diesen fremden Menschen einfach hier in meine Wohnung, und dann schon wieder die Klingel, jetzt war er vor

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