Drei Minuten mit der Wirklichkeit
fragte sie sich, ob damals schon irgendetwas geschehen war, das mit den Ereignissen später in einem Zusammenhang stehen konnte. Es musste doch irgendwo eine Erklärung geben.
Sie hatte den Telefonhörer abgenommen und gefragt, wer da sei.
»Ich bin’s. Paps. Schläfst du schon?«
»Nein, nein. Ich mache auf.«
Alles ganz normal. Sie waren in Leipzig auf einer Antiquitätenmesse gewesen. Jetzt erinnerte sie sich dunkel wieder daran. Am Samstag hatte ihr Vater arbeiten müssen, und ihre Mutter war mit einer Freundin zu irgendeinem Rosenzüchter gefahren. Am Sonntag wollten sie zu dieser Messe in Leipzig. Jetzt waren sie zurück. Markus hatte Anita nach Hause gebracht und war noch einmal ins Büro gegangen, um nach dem Rechten zu sehen. Und auf dem Heimweg schaute er kurz herein. Alles ganz normal.
Warum hatte sie das dann gestört?
Es hatte sie gestört. Sie hätte am liebsten gesagt, er solle lieber morgen Abend wiederkommen. Sie wollte ihn jetzt nicht sehen. Sie wollte überhaupt niemanden sehen. Sie hatte die Spuren der letzten zwei Nächte beseitigt und bei jedem Handgriff einen Stich im Herzen gespürt. Am Kühlschrank hing seine Karte mit seiner Adresse und Telefonnummer. Zweimal schon hatte sie den Hörer in der Hand gehabt. Aber ihre Verabschiedung lag doch erst ein paar Stunden zurück. Sie konnte heute nicht mehr bei ihm anrufen, auch wenn sie jeden Augenblick daran dachte. Jetzt war es ohnehin zu spät. Morgen um zehn begann das Morgentraining, und dann liefen ununterbrochen Proben bis sechzehn Uhr. Sie musste sich ausruhen, ihre Gedanken unter Kontrolle bekommen.
Sie hatte einen letzten prüfenden Blick um sich geworfen und war dann zur Eingangstür gegangen. Als die Fahrstuhltür zur Seite glitt, stand ihr Vater mit dem Rücken zu ihr in der Kabine. Er schaute kurz über die Schulter, entdeckte seine Tochter im Türrahmen, zwinkerte ihr zu, drehte sich dann schnell um und rief: »Überraschung!« Er trug ein altes Grammofon in den Händen.
Giulietta lächelte.
»Ist das alles?«, fragte er. »Eine Stunde lang habe ich verhandelt. Ich dachte, du würdest einen Luftsprung machen.«
»Das mache ich doch schon die ganze Woche.«
Sie ging auf ihn zu und bestaunte das Gerät. »Es ist wunderschön. Für mich?«
»Na klar für dich. Für wen denn sonst?«
»Komm doch rein. Es ist kalt hier.«
Sie ließ ihn vorangehen und schloss behutsam die Tür. Er stand einen Augenblick lang unschlüssig im Flur, dann stellte er das Grammofon einfach auf den Küchentresen, kehrte zu seiner Tochter zurück, küsste sie auf beide Wangen und hängte seinen Mantel an die Garderobe neben der Tür.
»Ich bleibe nicht lange. Wollte nur dein Gesicht sehen, und morgen hätte ich nicht vorbeikommen können. Wie geht’s dir, meine Kleine, alles in Ordnung? Du siehst müde aus. Wie war dein Wochenende?«
Während er sprach, bewegte er sich langsam in den Wohnraum hinein und blieb bei seiner letzten Frage erwartungsvoll neben der Couch stehen.
»Ich habe mich ausgeruht. Magst du was trinken?«
Er steckte die Hände in die Taschen und schaute kurz zur Decke, als hinge dort eine Karte mit den Drinks des Hauses. »Ein Gläschen Wein vielleicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Hamma nich«, sagte sie spöttisch, ein weit zurückliegendes gemeinsames Familienferienerlebnis zitierend. »Einen Tee, einverstanden? Du musst ja auch noch fahren, oder?«
Sie hatte in der Küche mit dem Wasserkocher hantiert, er hatte erzählt. Er erzählte immer. Ihr Vater war ein geborener Erzähler, fast ein Fantast, ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter, einer hochintelligenten, aber nüchternen Frau. Sie bewunderte ihre Mutter und war insgeheim stolz auf sie. Aber ohne ihren Vater wäre sie niemals dort hingekommen, wo sie jetzt war. Anita hätte ihr die Ballett-Ausbildung schlichtweg verboten. Sie hatte alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt, um zu verhindern, dass sie diesen Weg einschlug. Angefangen von den üblichen Argumenten, dass es absurd sei, sich fast zu Tode zu schinden für eine Karriere, die selbst im Glücksfall nach wenigen Jahren beendet sein würde, bis zu alarmierenden Artikeln aus medizinischen Fachzeitschriften, denen zufolge Ballett-Lehrer mit dem Körper eines Mädchens das Gleiche anstellten wie ein japanischer Bonsai-Gärtner mit einem Baum. Außerdem weigere sie sich, zuzulassen, dass ihre Tochter als bessere Analphabetin heranwüchse, deren Gehirn zu nichts anderem dienen würde, als die subtile Motorik
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