Drei Minuten mit der Wirklichkeit
nach diesem fremden Mann, der bereits alles über sie wusste, alles an ihr kannte: den Geruch ihrer Haut, ihres Mundes, ihres Geschlechtes. Ob man ihr ansah, was sie erlebt hatte, was in ihr vorging?
Sie erledigte pünktlich ihre Einsätze und hielt sich ansonsten im Hintergrund, kauerte unauffällig zwischen den anderen Tänzerinnen und Tänzern, die sich in den Pausen am Rand des Probensaals auf dem Boden niederließen, Spitzen flickten oder Bänder annähten, sich gegenseitig massierten, in Zeitschriften blätterten oder einfach wie abgeschaltet an der Wand lehnten. Überall lagen T-Shirts und Sweater herum und ragten Wasserflaschen aus Plastiktüten oder Rucksäcken. Hier und da standen blaue oder rote wattierte Neoprenstiefel, die neuerdings in Mode waren, weil es kein schöneres Gefühl gab, als aus einem Spitzenschuh in weiche Miniatur-Moonboots umzusteigen. Wer diese Mode wohl in Gang gesetzt hatte? Früher trug man Schläppchen. Ein neuer Trend war auch, dass die Männer das linke Hosenbein ihrer Trainingshosen über das Knie hochschoben. Giulietta hatte keine Ahnung, was daran besonders
chic
sein sollte, aber offenbar meinten die Anhänger dieser Mode, dadurch dem extrem geregelten Ballett-Betrieb gegenüber eine unangepasste Haltung zu bekunden. Ein hochgerolltes Hosenbein als Zeichen der Opposition gegen die strengen, sowohl sichtbaren als auch unsichtbaren Gesetze des klassischen Balletts; das Läppische der Geste sprach Bände über den ganzen Berufsstand.
Das Reglementierte, ja fast Militärische dieser Kunst war ihr an jenem Montagmorgen besonders aufgefallen. Giulietta stellte Ballett nicht in Frage. Ballett war nur dann schön, wenn es perfekt war. Es gab hier keinerlei Raum für Abweichungen, Meinungen oder Interpretationen. Eine Ballett-Figur war wie ein Geigenton: klar und rein oder falsch.
Das musste man einfach akzeptieren. Doch manchmal spürte man kaum etwas vom Zauber des Vollkommenen, sondern sah überall nur die mühselige Suche danach. Und wie oft wirkte diese Suche mechanisch, automatisch, repetitiv, als seien sie alle wirklich nur das, was ihre Mutter bis heute dachte: bewegliche Puppen. Tanzautomaten. Wenn man sich die Proben anschaute, konnte man diesen Eindruck nicht leugnen. Denn Perfektion war eine Frage der Disziplin, der totalen Beschränkung der Freiheit des Einzelnen zu Gunsten der formvollendeten Bewegung der Gruppe. »Claudia, dein Arm, verdammt noch mal! Und bringt doch endlich mal etwas Spannung in die Oberkörper, wenn ihr in der Fünften zum Stehen kommt!« Was hatte denn diese Kunst noch in einer Welt verloren, die das Individuelle, den persönlichen Ausdruck, das Natürliche über alles stellte? Raum für individuellen Ausdruck gab es genau genommen nur für die Solisten, und selbst bei ihnen lief alles im Rahmen der alten Schrittfolgen ab. Was hatte sich seit den Choreografien von Petipa denn schon an diesem Tanz verändert? Die Schwäne im Schwanensee trippelten heute vermutlich nicht viel anders über die Bühne als vor hundert Jahren. Und wenn schon! Litten die Menschen heute an einer unglücklichen Liebe vielleicht anders als damals? Wären Siegfrieds und Odettes Tränen heute aus einem anderen Stoff? Gab es in den wesentlichen Dingen überhaupt jemals einen Fortschritt? Wenige Meter von ihr entfernt glitt soeben die Primaballerina in eine
attitude croisée
. War eine würdigere, schönere, vollendetere Form für den menschlichen Körper überhaupt denkbar?
Und warum gingen ihr solche Gedanken durch den Kopf, während sie an der Wand kauerte und die verwachsenen Zehennägel der Tänzerin neben sich betrachtete, die sorgsam Klebestreifen zurechtschnitt, Wattestücke zwischen ihre Zehen steckte und Second Skin auf wunde Hautstellen klebte? Warum war sie kaum bei der Sache und konnte es kaum erwarten, dass sie die Probe endlich hinter sich hätte, um in die Umkleide zu fliehen, sich zu duschen und zu versuchen, Damián zu erreichen?
Als sie nach Hause kam, blinkte ihr Anrufbeantworter. Drei der Nachrichten waren von ihm. Sie lauschte seiner Stimme auf dem Band und bekam kaum Luft vor innerem Jubel. Zwei Stunden später war er bei ihr, erstickte sie fast mit Küssen, Umarmungen, Liebkosungen und fünfzig dunkelroten Rosen. Sie liebten sich auf dem Wollteppich zwischen der Schlafcouch und dem Kamelhocker, sprachen kaum, schauten sich nur an und versuchten eine Erklärung dafür zu finden, was mit ihnen geschah. Es gab aber keine, oder jedenfalls keine, die man in
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