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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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sich neben sie auf die Couch. Im Fernsehen flimmerten irgendwelche Bilder von Massengräbern im Kosovo. Ein Journalist sprach in ein Mikrofon. Im Hintergrund sah man verbrannte Häuser und dann einen ausgehobenen Graben, worin in Säcke gehüllte Leichen lagen.
    Er hatte ihre Hand genommen und gesagt: »Du musst dich durchsetzen, Giulietta. Ich weiß, dass dir das schwer fällt. Aber du hast keinen Grund, dich zu verstecken.«
    »Ich verstecke mich überhaupt nicht. Lass mich nur. Ich komme schon klar. Wie geht’s Mama?«
    Sie hatte ihre Hand zurückgezogen. Er schaute sie ernst an, dann lächelte er und griff nach seiner Teetasse. »Sie arbeitet viel. Wie ich auch. Das Wochenende hat uns gut getan. Leipzig ist ganz hübsch geworden. Du hättest mitkommen sollen.«
    »Ihr solltet viel mehr reisen. Wenn ich ein bezahltes Haus hätte und eine erwachsene Tochter, würde ich nur noch halb so viel arbeiten und die Zeit mit meinem Partner verbringen.«
    »Ein Partner? Was für ein Partner?« Er stellte die Tasse ab und verschränkte die Arme vor der Brust.
    »Ich spreche doch über euch. Warum buchst du nicht einfach eine Woche Barbados für euch beide? Mutti schwärmt schon seit zwei Jahren davon. Wenn ich du wäre, würde ich das machen.«
    Er runzelte die Stirn und schüttelte dann den Kopf. »Du hast Ideen. Ich bin froh, wenn ich bis zum Ende des Regierungsumzuges jede Nacht sechs Stunden Schlaf finde. Und du solltest auch an andere Dinge denken als an Urlaub. Wann ist das Vortanzen an der Deutschen?«
    Giulietta sprang von der Couch auf. »Vortanzen. Vortanzen. Mein Gott, ich bin seit sechs Wochen in der Staatsoper. Lass mich doch einmal verschnaufen.« Sie lief zum Fernsehgerät und schaltete es aus.
    »Sag mal, ist irgendwas mit dir?«
    »Nein. Was soll denn sein? Aber ich will nicht, dass du mich immer fragst, wie es geht und wann ich dies oder jenes tue. Ich komme schon zurecht. Mach dir keine Sorgen. Was im Sommer war, ist vorbei.«
    Sie sah, dass er sich beherrschte. Er schaute sie auf eine Weise an, die ihr nur zu vertraut war. Sie ging zu ihm, kniete vor ihm hin und legte ihre Arme auf seine Knie. »Es tut mir Leid, Papa, ich habe es nicht so gemeint, aber du bist manchmal einfach zu … zu fürsorglich.«
    Er hob kurz seine Hand und ließ sie dann wieder sinken. Es war ein Reflex. Er wollte seine Finger durch ihre Haare gleiten lassen. Das hatte er früher auch immer getan. Wenn sie auf seinem Schoß saß und er ihr die Gutenachtgeschichten vorlas. Das hatte immer er gemacht. Er konnte die Stimmen der Figuren so gut imitieren. Aber er streichelte sie auch noch, als sie schon lange keine Gutenachtgeschichten mehr hören wollte. Es störte sie. Gewisse Gesten und Berührungen waren ihr unangenehm. Sie hatte es lange nicht gewagt, ihm das zu sagen. Sie fühlte sich schuldig. Sie hatte versucht, es ihm durch Gesten und Blicke verständlich zu machen, aber das hatte er nicht bemerkt oder nicht bemerken wollen. Schließlich hatte sie es ihm gesagt, ganz förmlich, ohne besondere Umschweife. »Ich mag es nicht, wenn du meine Haare anfasst. Bitte lass das in Zukunft, ja?« Er hatte sich daran gehalten, aber wie oft sah sie seine Hand zucken.
    Sie wusste, dass es zwischen ihr und ihrem Vater ein Problem gab. Wie er sie manchmal ansah. Das ging ein wenig über väterliches Interesse und Zuneigung hinaus. Sie begann zu vermeiden, mit ihm allein zu sein. Dann klagte sie über den langen Schulweg und setzte durch, dieses Studio zu bekommen. Ihr Vater hatte sofort zugestimmt. Er schien selbst zu spüren, dass es besser wäre, wenn sie nicht mehr zu Hause wohnte. Ob ihre Mutter davon etwas gemerkt hatte? Es war schwierig zu sagen, was Anita dachte. Einmal hatte Giulietta sich sogar eines Nachmittags hingesetzt und begonnen, ihrer Mutter einen Brief zu schreiben. »Liebe Mutti«, hatte sie begonnen, »ich möchte, dass du weißt, dass ich Papa sehr lieb habe, aber nicht so sehr, wie er dich lieb haben soll.« Sie hatte den Brief nicht weitergeschrieben, aber auch lange nicht weggeworfen. Er lag wohl bis heute irgendwo zwischen ihren alten Sachen.
    Ihr Vater war gegen Mitternacht gegangen.

6
    D er nächste Tag war hart gewesen. Ihr Körper fühlte sich nach dem Aufstehen wie zerschmettert an, und am Ende des Morgentrainings wusste sie nicht, wie sie den Tag durchhalten sollte. Sie stand schwer atmend am Fenster, schaute auf die Bäume dort draußen mit ihren herbstgelben Blättern und spürte eine unerträgliche Sehnsucht

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