Drei Minuten mit der Wirklichkeit
ihrer überzüchteten Bewegungen zu steuern. Freilich waren Anitas Einwände und die ganzen Diskussionen völlig nutzlos, denn Giulietta war bereits Ballett-Tänzerin, bevor sie das erste Mal im
demi-plié
an der Stange gestanden hatte. Auch wenn die Welt sich gegen sie verschworen und sie gezwungen hätte, Zahnärztin, Juristin oder Verkäuferin zu werden, so wäre sie trotzdem eine Ballett-Tänzerin gewesen, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie es als ihre Bestimmung betrachtete. Ebendies war für ihren Vater selbstverständlich und für ihre Mutter irritierend: dass manche Menschen etwas Ureigenes und Unveränderliches in sich tragen, für das es im schlimmsten Fall keine Erklärung gibt. Dieser Gedanke widersprach Anitas Menschenbild völlig.
»Kunst ist nicht gesellschaftlich«, hätte ihr Vater gesagt.
»So ein Unsinn«, hätte Anita entgegnet. »Das sagst du nur, weil du dieses Ost-Trauma hast. Außerdem geht es mir nicht um Kunst, sondern darum, dass meine Tochter ein Abitur macht, das diesen Namen nicht verdient. Was lernen die dort eigentlich außer Kniebeugen?«
»Dass du das nicht kapierst, Anita. Das ist eine Ballett-Schule.«
»Eben. Das stört mich. Was lernt sie denn schon über die Welt. Sie hat keine Ahnung von der Wirklichkeit. Sie weiß nichts über Geschichte oder Politik. Sie wächst in dem Glauben auf, die Welt wäre eine Theaterbühne.«
»Die paar Minuten da oben auf der Bühne, das ist die Wirklichkeit für eine Tänzerin.«
»Eben. Das ist ja das Schlimme.«
Anita fiel zu Ballett höchstens ein, dass es eine höfische Kunstform war, die dazu diente, den Adel zu unterhalten. Es war so ziemlich das Letzte auf ihrer internen Nutzlosigkeitsskala, vor allem für eine Frau, die ihrer Auffassung nach Besseres zu tun haben sollte als in einer noch so sublimierten Form ihren Körper erst zu verkrüppeln und dann auch noch zur Schau zu stellen.
»Verkrüppeln wird sie, wenn du sie nicht tanzen lässt«, war alles, was ihr Vater dazu gesagt hatte.
Jetzt, während sie sich diesen Abend Stück für Stück wieder in Erinnerung rief, fiel ihr das seltsame Gefühl wieder ein, das sie für einen kurzen Augenblick beschlichen hatte, als sie ihren Vater dort im Raum stehen sah. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt. Offenbar nahm irgendeine Reportage in den Tagesthemen seine Aufmerksamkeit gefangen. Jedenfalls hatte er sich kurz umgedreht, schaute interessiert auf den Fernsehschirm und dann ein wenig im Zimmer herum, wohl auf der Suche nach der Fernbedienung, um die Lautstärke hochzudrehen. Diese Bewegung hatte sie irritiert. Sie musste das ganz tief in ihrem Bewusstsein registriert haben, kaum den eigenen Gedanken zugänglich, oder warum fiel ihr das jetzt wieder ein? Ihr Vater war ihr an diesem Abend plötzlich anders erschienen. Etwas an ihm war ihr fremd gewesen, und die Fremdheit hatte mit dieser Bewegung begonnen. Sie hatte das Gefühl nicht weiter verfolgt. Sie war müde und ein wenig durcheinander. Das Ganze hatte vielleicht zwei Sekunden gedauert. Ihr Vater stand dort im Raum, den Rücken zu ihr gekehrt, vollzog diese suchende Bewegung und schien plötzlich jemand anderes zu sein. Als spreche ein vertrauter Mensch plötzlich einen einzigen Satz mit völlig veränderter Stimme.
»Du bist nicht besonders gesprächig heute Abend«, sagte er irgendwann.
»Ich bin etwas müde. Und morgen ist ein langer Tag.«
»Ich verstehe den Wink. Darf ich noch austrinken?«
»Sei doch nicht albern. Natürlich.«
»Was macht ihr morgen?«
»Das Gleiche wie letzte Woche. Verdiana und Nussknacker.«
»Und, hast du Chancen auf einen Einsatz?«
»Kaum. Ich werde es im Januar bei der Deutschen Oper versuchen. Da soll es Stellen geben für dieses Tango-Ballett.«
»Soll ich mal mit der Direktorin reden?«
»Was? Nein, um Gottes willen.«
»Ich bin ganz geschickt bei so etwas.«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Wenn du das tust, spreche ich kein Wort mehr mit dir.«
Er schaute sie prüfend an. »Warum bist du eigentlich so müde, wenn du dich das ganze Wochenende ausgeruht hast?«
Ihr Kopf lief feuerrot an. Sie konnte sich nicht helfen. Sie war überhaupt nicht auf diese plötzliche Frage vorbereitet gewesen. Aber die gedämpfte Beleuchtung schützte sie. Er konnte das nicht gesehen haben. »Weil die Woche so anstrengend war. Du glaubst ja nicht, was das für einen Unterschied macht, in einem Ensemble zu sein und nicht in der Schule.«
Er hatte die ganze Zeit vor ihr gestanden. Jetzt setzte er
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