Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Worte hätte fassen können oder müssen. Sie lagen stundenlang herum und erzählten sich gegenseitig, wie sie die letzten zweiundsiebzig Stunden erlebt hatten, jede Einzelheit, jede Empfindung. Giulietta wollte genau wissen, was er gedacht hatte, als sie am Freitag das Theater betrat. Was war ihm zuerst aufgefallen? Warum hatte er sich auf den ersten Blick in sie verliebt, wie er behauptete? Sie hatten erst drei Tage gemeinsame Vergangenheit, doch sie bot schon genügend Gesprächsstoff für einen ganzen Abend und eine halbe Nacht. Dann hatte sie erfahren, was er hier tat, dass er für drei Monate in Berlin war, um eine Tango-Show einzustudieren und nebenher ein wenig zu unterrichten. Er habe sich schon immer für Deutschland interessiert, schon in der Schule. Es sei wohl das Land mit den meisten Widersprüchen, faszinierend und schrecklich zugleich. Das habe ihn schon immer beschäftigt. Die Genies und die Monster.
»Das Land ist faszinierend. Der Alltag. Die Leute. Was sie so machen.«
»Wie meinst du das?«
Er hatte von der Stille erzählt, die ihn beeindruckt hatte. Die Stille in den Häusern, das Schweigen in den Bussen, die Ruhe in den Parks. Was man in einem Berliner Park erleben konnte, war geradezu unbeschreiblich. Wie die Menschen sich kleideten, und vor allem wie sie sich öffentlich entkleideten. Er hatte in Buenos Aires schon davon gehört, dass man in Berlin nackt in Parks herumlag, aber er hatte es sich trotzdem nicht vorstellen können. Nachdem er es mit eigenen Augen gesehen hatte, verstand er, warum. Offenbar hatte hier niemand Angst davor, sich lächerlich zu machen.
»Die Menschen hier haben ihr Schamgefühl an einer anderen Stelle.«
»Wie meinst du das?«
»Es ist ihnen peinlicher, etwas Dummes zu sagen, als dumm auszusehen. Bei uns ist das umgekehrt. Am Kreuzberg zum Beispiel. Da lag ein junger Mann nackt in der Sonne. Nach einer Weile war die Sonne weitergewandert, und er lag im Schatten. Er stand auf, zog ein T-Shirt an, aber keine Unterhose. Er ging zwanzig Meter weiter, breitete seine Sachen aus, zog das T-Shirt wieder aus und legte sich wieder hin. Ein Argentinier würde sich eher erschießen lassen, als mit Hemd und ohne Unterhose durch einen Park zu laufen.«
Giulietta kicherte.
Er erzählte ihr, was ihm alles aufgefallen war. Dass die Leute ungeniert auf der Straße Würste und Pommes frites in sich hineinstopften, auch wenn ihnen dabei der Senf oder die Mayonnaise über das halbe Gesicht tropfte. Wie kitschig viele Läden eingerichtet waren. Dass in einem hoch technisierten Land noch Wohnungen existierten, die über keine eigene Toilette, sondern nur über ein Außenklo verfügten. Eine Wohnung ohne ein eigenes Bad? Mit Kohleöfen beheizt. In der Hauptstadt eines der reichsten Länder der Erde. Das hätte er sich früher einfach nicht vorstellen können. Genauso verwunderlich war es aber, dass die Leute sich an Verabredungen hielten und das auch von den anderen erwarteten.
»Ist das bei euch nicht so?«
»Nein, jeder hat immer mehrere Verabredungen gleichzeitig.«
»Und wenn zwei Termine gleichzeitig klappen?«
»Das passiert ständig. Dann sagst du einen ab. Das machen alle so, deshalb musst du immer eine Ausweichverabredung haben.«
Und er erzählte von der Erfahrung, die ihn am meisten beeindruckt hatte: eine U-Bahn-Fahrt in einem Waggon voller zurückkehrender Fußballschlachtenbummler. Dies war überhaupt der Gegensatz, der ihn am meisten beschäftigte: das Nebeneinander von bewundernswürdig hoher Entwicklung in manchen Bereichen und verblüffender Nachlässigkeit in anderen, manchmal an ein und derselben Person. Die gebildeten, selbstbewussten Studentinnen mit behaarten Beinen und Achselhöhlen. Die reinliche, pünktliche, durchorganisierte Berliner U-Bahn und das Heer von rülpsenden, grölenden und spuckenden Fußballkretins, die einen an die Zeit erinnerten, als ganz Europa vor den germanischen Stämmen erzitterte. Der Geschäftsmann, der aus einem Achtzigtausend-Mark-Mercedes aussteigt und einen Zweihundertfünfzig-Mark-Anzug trägt. Die siebenundsechzig Brotsorten und der ungenießbare Einheitskaffee. Die allgegenwärtige Sorge über die Pflege der Natur, der Umwelt, die vierfache Mülltrennung, der Verzicht auf das Auto, und im Gegensatz dazu die Vernachlässigung der Körperpflege bis hin zur grotesken Verunstaltung der eigenen äußeren Erscheinung durch zerstochene Nasen oder Augenbrauenringe.
»Früher, als die Mauer noch stand, soll es noch schlimmer
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