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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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gewesen sein«, warf Giulietta ein. »Mein Vater hat erzählt, als er übergesiedelt sei, hätte er seinen Augen nicht getraut. Die Leute im Westen hätten so viel mehr Geld und Auswahl gehabt, aber sich überhaupt nicht um Äußerlichkeiten gekümmert. Die hätten alle gleich ausgesehen. Natürlich nicht alle, aber viele, vor allem die jungen. Eine Frau in einem Kleid sei damals reaktionär gewesen. Und erst die Männer! Es ist wie in Amerika. Die gehen in Trainingsanzügen einkaufen.«
    »Dein Vater ist aus der DDR ?«
    Sie hatte genickt.
    »Ist er geflohen?«
    »Er wurde ausgebürgert. Er hat ziemlich viele Schwierigkeiten dort gehabt.«
    »Das ist ja interessant. Hat er dir davon erzählt?«
    »Nein. Kaum. Er redet darüber nicht gern. Ich weiß nur, dass er ein glühender Antikommunist ist. Er hasste dieses Regime. Na ja, verstehen kann ich es irgendwo. Auch wenn ich finde, dass er ein wenig übertreibt.«
    »Und deine Mutter? Ist sie auch aus Ostdeutschland?«
    »Nein. Sie kommt aus Heilbronn. Sie ist in den sechziger Jahren nach Berlin, wegen der Studentenbewegung. Sie war damals ziemlich links.«
    »Und hat ausgerechnet einen Antikommunisten geheiratet?«
    »Ja. Komisch, nicht wahr? Bist du auch Kommunist?«
    »Ich? Ich bin Tangotänzer.«
    »Dann küsse mich bitte.«

7
    S ie betrat den südamerikanischen Kontinent zuerst in Rio de Janeiro, während der Zwischenlandung. Müde folgte sie den anderen Passagieren in eine große Wartehalle hinein, wo man die Wahl hatte, auf braunen Plastikschalensitzen Platz zu nehmen oder an einer improvisierten Kaffeebar zwischen Fluggästen zu stehen, die nach zwölf Stunden ihre erste Zigarette rauchen durften und entsprechend gierig an ihren Glimmstängeln sogen.
    Giulietta erwog kurz, zu Gunsten einer Tasse Kaffee dem Qualm standzuhalten, entdeckte jedoch dann am Ende der Halle einige getönte Fenster und beschloss, einen ersten Blick auf die Umgebung zu werfen. Wie Brasilien wohl aussah? Um das Flughafengebäude herum erstreckten sich Felder und Straßen, aber durch die getönten Scheiben war nicht auszumachen, was für ein Licht diesen Weltteil beschien. Die Uhr zeigte 6:50 an. Sonnenaufgang. Aber dort draußen wirkte alles wie auf einer verblichenen Farbfotografie, die Hangars und Schuppen, die Strommasten, welche die Zufahrtsstraßen säumten und ein Gewirr aus Drahtstrippen gerade noch so vor dem Absturz bewahrten. Kein erhebender Anblick. Aber Flughäfen wurden wohl überall auf der Welt an langweiligen Stellen gebaut.
    Allmählich beschlich sie das Gefühl elementarer Fremdheit. Nichts war ihr hier vertraut. Portugiesische Wortfetzen drangen an ihr Ohr. Oder war es Spanisch? Die Physiognomie der Menschen war anders, auch wenn sie nicht hätte angeben können, warum sie das so empfand. Ihre Kleidung, ihre Bewegungen, ihr ganzes Gebaren hatte etwas Sympathisches und Antiquiertes. Die steifen, gestärkten weißen Hemden des Bodenpersonals, die Männer mit dicken Hornbrillen, die teilweise auffallenden Goldschmuck zur Schau trugen, die stille, gleichsam distinguierte Art und Weise, in der manche der älteren Frauen auf ihrem Platz saßen, die Handtasche auf dem Schoß, ein kleines Taschentuch in der Hand, gleichfalls mit viel Goldschmuck behängt – all das schien auf schwer fassbare Art aus einer anderen Zeit zu stammen. Sie schaute verunsichert um sich und spürte, dass sie zusehends nervöser wurde. In wenigen Stunden würde sie in Buenos Aires landen. Was sollte sie denn dann bloß tun? Ihr Plan, in die Stadt zu fahren und sich in eine x-beliebige Tangobar zu setzen, kam ihr auf einmal absurd vor. Außerdem war es früh am Morgen. Vermutlich öffneten diese Lokale erst abends. Sie hatte nicht einmal ein Hotelzimmer reserviert. Und wie sollte sie bloß Damián finden?
    Sie holte den Reiseführer, den sie in Zürich am Flughafen gekauft hatte, aus ihrer Handtasche und blätterte darin herum. Immerhin enthielt er einige Seiten mit Hotelempfehlungen. Doch was sie in der Einleitung über die Stadt las, steigerte ihre Nervosität eher noch. Wer immer das Buch verfasst hatte, schien keine besonders hohe Meinung von Buenos Aires zu haben. Oder wie sollte man sich erklären, dass dem Reiseführer vor allem Horrormeldungen vorangestellt waren? Die Stadt sei am Ende, breche unter der Last des wirtschaftlichen Niedergangs und des ungebremsten Zuzugs Arbeit suchender, verarmter Landbewohner allmählich zusammen. Überall schien man zahllosen Gefahren an Leib und Leben

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