Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
Vom Netzwerk:
ausgesetzt zu sein. Nicht zuletzt in den Fahrstühlen, die offenbar seit Jahrzehnten nicht mehr gewartet worden waren und nun in aller Regelmäßigkeit abstürzten. Alle zwei Stunden raste angeblich irgendwo in der Stadt ein Fahrkorb samt Insassen unkontrolliert den Schacht hinab und zerschellte am Boden. Gegenwärtig laut dem Autor die Haupttodesursache in Buenos Aires. Nicht weniger gefährlich war es anscheinend, essen zu gehen. Während noch bis vor kurzem vor allem Luxusrestaurants das bevorzugte Ziel bewaffneter Banden darstellten, die die Gäste während des Abendessens mit vorgehaltener Pistole um ihr Geld und ihre Kreditkarten erleichterten, so seien neuerdings auch vermehrt Durchschnittslokale Ziel dieser Wegelagerei geworden, und die Besitzer der Restaurants waren dazu übergegangen, nicht nur Wachen aufzustellen, sondern auch ihre Gäste auf Waffen hin abzutasten, um zu verhindern, dass es bei solchen unvermeidlichen Besuchen zu Schießereien kam. Nachdem Giulietta auf diese Weise auch noch zur Kenntnis genommen hatte, dass gegenwärtig auf jeden Bewohner von Buenos Aires etwa acht Ratten kamen, ließ sie das Buch verdrießlich auf den Schoß sinken. Dann lauschte sie ungläubig einer Ansage, die aus dem Deckenlautsprecher kam. Die neue Einstiegszeit wurde durchgegeben und auch die voraussichtliche Ankunftszeit in Buenos Aires. Es lagen noch zwei weitere Flugstunden vor ihr. Sie hatte gedacht, von Rio wäre es nur noch ein kurzes Stück. Wie unfassbar weit entfernt lag dieses Land eigentlich? Sie schlug erneut den Reiseführer auf, suchte nach einer Landkarte und geriet nur noch mehr in Erstaunen. Rio de Janeiro und Buenos Aires lagen nur ein paar Zentimeter auseinander. Und dafür brauchte man zwei Flugstunden? Danach zog sich der Kontinent noch einmal über die ganze Buchseite endlos weit nach Süden hin, über Tausende von Kilometern, eine riesige, konisch zulaufende Fläche, nur hier und da mit einem Punkt versehen, der eine Stadt markierte. Die Hälfte der Bevölkerung lebte in der Hauptstadt, las sie. Das riesige Land dahinter war sozusagen leer. Halb Europa passte dort hinein.
    Sie dachte an Damián, an sein Erstaunen, als er im September in Frankfurt gelandet war. Achttausendfünfhundert Meter Sinkflug im Nebel. Er hatte es kaum fassen können. Sie musste lächeln, während sie an sein Gesicht dachte, den Ausdruck völliger Verwunderung in den Augen. Der Gedanke hatte ihn ungeheuer beeindruckt, in einer Stadt, einem Land anzukommen, über dem eine achteinhalb Kilometer dicke Wolkendecke hing. Wenn er jetzt hier wäre, würde sie ihn fragen, wie es möglich war, dass sich in einem Land, das größer war als Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien zusammen, die Hälfte aller Bewohner in einer einzigen Stadt drängten. Aber nein, sie würde ihn ganz andere Dinge fragen. Zum Beispiel, warum er die Aufführung fast hatte platzen lassen. Wie hatte er das nur tun können? Waren die Spannungen mit Nieves daran Schuld gewesen? Nieves! Sie war im November angekommen. Am siebten. Das wusste sie noch wie heute. Damiáns Erklärung, wer Nieves sei, war kurz und knapp gewesen: »Meine Tanzpartnerin. Mehr nicht. Unsere Beziehung ist seit gut einem Jahr nur noch rein professionell.«
    Die Begriffe
seit einem Jahr
und
nur noch
stellten klar, was dem vorausgegangen war. Sie tanzten seit 1995 zusammen. Nieves war dreiundzwanzig und er gerade einmal achtzehn Jahre alt gewesen, als sie sich kennen lernten. Bereits die erste Nennung ihres Namens hatte Giulietta verunsichert. Das war nach einer der Proben gewesen. Giulietta hatte Damián vom
Chamäleon
abgeholt, und Lutz hatte beiläufig gefragt, wann Nieves ankommen würde. Damián hatte die Frage einfach übergangen und irgendetwas von Gruppenproben gesagt, die sie noch planen müssten. Lutz hatte erklärt, dass die Planung schon fertig sei, und noch einmal gefragt, wann Nieves käme, damit man mit den ersten Durchläufen beginnen könnte. »Sonntag«, hatte er gemurmelt und war dann in die Garderobe verschwunden. Lutz hatte Giulietta angeschaut und die Augenbrauen hochgezogen. »Argentinier«, sagte er dann, »manchmal gehen sie mir echt auf die Nerven.«
    »Wer ist denn Nieves?«, hatte sie gefragt.
    »Damiáns Partnerin. Ich meine Tanzpartnerin. Hier, das ist sie.«
    Er zeigte auf einen Tisch im Foyer, auf dem Plakate herumlagen. »
Julián y Juliana
«, stand in roten, gezerrten Buchstaben auf schwarzem Grund. Die Pose des abgebildeten Tanzpaares war zwar

Weitere Kostenlose Bücher