Drei Minuten mit der Wirklichkeit
noch als Tanzpose erkennbar, aber es handelte sich eher um die Darstellung des letzten Augenblicks vor der völligen körperlichen Vereinigung. Das Gesicht des Mannes war durch das Profil der Frau fast völlig verdeckt. Nur anhand der unter dem Bild gedruckten Namen war erkennbar, wer auf dem Plakat zu sehen war: Damián Alsina & Nieves Cabral.
Nieves’ Augen waren halb geschlossen, ihr Mund leicht geöffnet. Ihr tadellos frisiertes Haar war pechschwarz, ihre Lippen knallrot und leicht glänzend, ihr Gesicht hinreißend, weiß geschminkt, mit einem Schönheitsfleck auf der Wange. Und ihre atemberaubende Figur! Giulietta starrte neidvoll auf diese vollen Brüste, die perfekten Beine, die vollendete Beckenpartie. Giulietta mochte das Wort nicht, aber hier passte es auf einmal: Nieves war ein Traumweib. Der Fotograf hatte sie in einem Moment höchster Anspannung erfasst, dem Augenblick, da Widerstand in Hingabe umschlägt. Ein Träger ihres Dreißiger-Jahre-Kleides war etwas heruntergerutscht und betonte ihre entblößte Schulter. Eine Strähne hatte sich aus der tadellosen Frisur gelöst und schlängelte sich über ihre Schläfe herab. Das also war Nieves. Mochte sie niemals nach Berlin gelangen.
»Und sie tanzt auch in diesem Stück?«
»Klar.« Lutz hatte sie beobachtet. »Die beiden
sind
das Stück. Sie haben das ja zusammen erarbeitet. Meinst du, die Leute kommen meinetwegen oder wegen der Tänzer aus Berlin in die Show? Die beiden sind sensationell, da kann keiner hier mithalten.«
»Worum geht es eigentlich in der Geschichte?«
»Hat er dir das nicht erzählt?«
»Nein.«
»Na, wie immer im Tango. Unglückliche Liebe und Klassenunterschiede. Boy meets girl. Das Ganze spielt im Buenos Aires der Jahrhundertwende. Julián, ein armer Teufel, der in den Schlachthöfen arbeitet, begegnet beim Tango Juliana.«
»Und weiter?«
»Der Vater von Juliana, ein Typ aus der Oberschicht, ist gegen die Verbindung und schickt seine Tochter nach Paris, wo sie schnell mit einem anderen verheiratet wird. Julián, der arme Arbeiter aus der Vorstadt, hat selbstverständlich das Geld nicht, um ihr zu folgen. Ich spiele den bösen Homosexuellen, der Geld hat und Julián erpresst. Das ist die Szene, die du damals gesehen hast. Julián, also Damián, will Geld von mir. Ich will es ihm nur geben, wenn er dafür mit mir schläft. Das ist übrigens typisch Damián. Er macht immer so ein Zeug, deshalb hat er auch keinen Argentinier für die Rolle gefunden.«
»Ach ja. Wieso?«
»Na ja, vielleicht sind ja im Ballett die meisten Männer schwul. Aber im Tango kriegst du damit Probleme. Keiner von den guten Tänzern würde das tanzen. Mann mit Mann in homosexuellem Kontext. Undenkbar.«
»Was meinst du mit ›immer so ein Zeug‹?«
»Na ja, Damián macht komisches Zeug. Seltsame Schritte. Sagen jedenfalls alle. Vielleicht ist es auch Neid. Tango ist eine ziemlich hermetische Welt. Und ich glaube, die Guten, also die wirklich Guten, sind sich sowieso alle nicht grün. Wegen der Konkurrenz. Das ist wie bei uns im Ballett. Schau doch, wie das bei Béjart gewesen ist. Oder bei Balanchine. Jeder, der etwas Neues macht, wird von den anderen angefeindet. Vor allem, wenn er gut ist. Damián ist nun mal verdammt gut. Aber er macht komisches Zeug. Deshalb eckt er in Buenos Aires überall an. Außerdem passt er überhaupt nicht in die Tangoszene. Das spüren die irgendwie.«
»Wie meinst du das?«
»Übertrieben gesagt: er kann lesen und schreiben. Damián ist ein intellektueller Typ. Das ist etwas relativ Neues in dieser Kultur. Tango kommt von ganz unten, aus den Mietskasernen, aus dem Slum. Mit den meisten älteren Typen, die dir in Buenos Aires in den Tangoschuppen über den Weg laufen, kannst du kein vernünftiges Gespräch führen. Die ticken alle auf einer anderen Frequenz. Aber vollständig. Verstehe mich nicht falsch. Die sind schon ganz nett. Aber selbst wenn du die Sprache kannst, merkst du bald, dass die ganz woanders unterwegs sind.«
»Du bist also schon einmal dort gewesen?«
»Ja sicher. Diesen Tanz verstehst du sonst nicht. Ich glaube, es gibt wenige Dinge, die so ortsabhängig sind wie Tango. Nicht nur der Tanz. Vor allem die Musik. Im Grunde müsste man das noch mehr einschränken. Ein paar Straßenecken, eine Hand voll Kneipen und Cafés, ein paar hundert Verse und Melodien: das ist Tango. Wenn du die geheimen Ecken nicht kennst, dann kannst du zwei Wochen in Buenos Aires verbringen und überhaupt nicht damit in
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