Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Berührung kommen. Es ist eine Parallelwelt mit eigenen Gesetzen. Vor fünfzehn Jahren war der Tanz sogar so gut wie ausgestorben, und niemand hat sich daran gestört.«
»Und wie endet die Geschichte?«
»Julián ersticht mich, wie du gesehen hast, und landet im Gefängnis. Juliana ist schwanger von ihm, aber das weiß er nicht. Er erfährt nur, dass sie in Paris geheiratet hat, und verflucht sie.«
»Das ist ja eine ziemlich düstere Geschichte.«
»Es wird noch schlimmer. Zwanzig Jahre später kommt er aus dem Gefängnis, tanzt wieder und landet irgendwie in Paris, das ja damals im Tangofieber war. Auf einem Ball fällt ihm ein junges Mädchen auf, das Schritte tanzt, die vor zwanzig Jahren in Mode waren. Er fragt sie, woher sie diese Schritte kann. Sie sagt, von ihrer Mutter. Er möchte ihre Mutter kennen lernen, und voilà: es ist Juliana. Julián hat mit seiner eigenen Tochter getanzt und sie an ihrem Stil erkannt.«
»Aha, also doch ein Happy End.«
»Nein. Das gibt’s im Tango nie. Julián und Juliana lieben sich natürlich immer noch, und Julián ist überwältigt von seiner Tochter. Er will, dass beide mit ihm davonlaufen. Aber Juliana ist zu stark an die Konventionen gebunden. Sie kann nicht mit ihm durchbrennen, in eine ungewisse Zukunft. Sie tanzen einen ergreifenden Abschiedstango, die unmögliche Liebe eben. Dann geht Julián und nimmt sich das Leben.«
»Das ist ja furchtbar.«
»Tja, finde ich auch. Aber ich bin ja nicht der Choreograf. Tänzerisch ist es allerdings genial. Das macht ihm keiner nach. Die Wiedererkennungsszene mit der Tochter ist sagenhaft. Deshalb hassen sie ihn auch so sehr, glaube ich. Eine normale Tangoshow wird nach fünfzehn Minuten langweilig. Ich habe bestimmt ein gutes Dutzend gesehen. Immer das Gleiche. Damián macht irgendwas Besonderes mit den Figuren, unterlegt sie mit seinen eigenen Chiffren. Das ist ungeheuer wirkungsvoll. Man sieht es und spürt es, aber keiner weiß so recht, wie es funktioniert. Damián arbeitet wie Wagner im Ring, mit Leitmotiven, die er immer anders verschränkt. Dazu braucht man aber Grips, und das haben in diesen Kreisen nicht viele …«
Der Halbsatz hatte sie schockiert. »Deshalb hassen sie ihn auch so sehr …« Sie hatte in den letzten drei Wochen einiges über Damián erfahren, dass er ein manischer Arbeiter war und dass er Pasta liebte, dass er Fernsehen nicht leiden konnte, einen sehr teuren Geschmack hatte, was Kleidung betraf, nicht gerne kochte, aber wenn, dann mit riesigem Aufwand, dass er dreimal täglich duschte, Körperhygiene fast obsessiv betrieb, am liebsten nachmittags Liebe machte und ein besonderes Licht dabei bevorzugte, das ihre Körper in warme Pastellfarben tauchte. Sie hatte festgestellt, dass sie es genoss, wie eine Prinzessin behandelt zu werden, wenn er ihr die Tür aufhielt, ihr aus dem Mantel oder beim Platznehmen half. Und ebenso genoss sie seine direkte Art, ihr sein Begehren mitzuteilen, sich an Orten zu lieben, wo sich das nicht gehörte, in der Umkleide im Schwimmbad, oder einmal in ihrem Auto, auf dem Heimweg von einer Party. Sie hatte sich ein Bild von ihm gemacht, das noch große Lücken und unbekannte Flächen enthielt. Aber nirgendwo gab es darin Platz für diesen Satz: »Deshalb hassen sie ihn auch so sehr …«
Wie konnte man ihn hassen?
8
S ie erfuhr es von Claudia, die eine Tanzschule in Steglitz unterhielt. Damián unterrichtete bei ihr.
»Komm doch kurz mit hinein«, hatte er gesagt, als sie ihn einmal dort absetzte.
»Nein, nein, was soll ich denn da?«
»Claudia kennen lernen. Sie ist nett, sie wird dir gefallen.«
Claudia entpuppte sich als eine hoch gewachsene, dürre Frau mit kurzrasiertem schwarzen Haar und blauen Augen. Als Giulietta mit Damián durch die Tür trat, lehnte sie gerade am Empfangstresen und telefonierte. Sie trug ein enges, schwarzes, bauchfreies T-Shirt, dazu weite dunkelblaue Seidenhosen und sah eher aus, als würde sie Yoga oder Tai Chi unterrichten. Hinter einer großen Glasscheibe, die die Eingangshalle teilte, sah man ein Dutzend Paare Tango tanzen. Claudia beendete ihr Gespräch, begrüßte Damián mit zwei Küsschen und streckte Giulietta die Hand entgegen. Damián stellte sie vor. »Sie will ein bisschen zuschauen«, fügte er dann scherzhaft hinzu und verschwand in den Übungsraum.
Claudia lächelte sie an. »Setz dich doch hier auf einen der Sessel, da hast du den ganzen Saal im Blick. Magst du was trinken? Eine Cola? Tee? Kaffee?«
Ihre Stimme
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