Drei Minuten mit der Wirklichkeit
war später dazugestoßen, um Damián abzuholen. Es waren bestimmt fünfzig oder sechzig Leute in der weitläufigen Wohnung am Nollendorfplatz gewesen, zu viele also, um jedem vorgestellt zu werden. Damián machte sie lediglich mit dem Gastgeber bekannt und drängte dann darauf, zu gehen. Nieves stand in einer Ecke des riesigen Wohnzimmers und unterhielt sich mit einem der Berliner Amateurtänzer. Sie sah noch besser aus als auf dem Plakat. Als Giulietta und Damián kurz darauf aufbrachen, spürte sie kurz Nieves’ Blick auf sich. Sie hatte sie registriert.
Jetzt saß sie dort unten und würde gleich mit Damián tanzen. Sie wollte das eigentlich gar nicht mit ansehen.
»Ich will sie nicht treffen«, hatte sie ursprünglich gesagt.
»Okay. Kein Problem«, hatte er geantwortet.
»Und ich komme nicht mehr zu den Proben.«
»Schade. Aber gut, einverstanden.«
Und dann war sie doch gekommen, um den ersten Durchlauf anzuschauen. Das war vor zwei Wochen gewesen. Die beiden Tangokönige und ihre unvergleichlichen Damen schlossen ihre Darbietung ab, indem die Damen den Herren auf den Schenkel hüpften und mit gekreuzten Beinen darauf sitzen blieben. Ein missratener Szenenschluss, befand Giulietta. Das Ganze bekam etwas von einer Vaudeville-Show.
Dann änderte sich schlagartig die Musik. Die Beleuchtung erlosch, zwei Lichtkegel irrten durch den Raum und verharrten auf Nieves und Damián, die sich über die ganze Entfernung der zwischen ihnen liegenden Bar-Attrappe anstarrten. Ein unheimlicher Streicherteppich setzte ein. Damián erhob sich. Nein, Julián erhob sich. Mit wenigen Schritten war er in ihrer Nähe. Da erhob sich auch Juliana, warf mit einer unvergleichlich geschmeidigen Lässigkeit ihren Schal um die Schultern und erwartete sein Angebot.
Die Musik war ein Chor von Irrlichtern, der zwei Liebende zueinander führt: unheimlich und hoffnungsvoll, rhythmisch suchend mit wundervollen harmonischen Auflösungen. Giulietta fragte Lutz, wie das Stück hieße.
»Tanguera«, flüsterte er. »Ein Tango-Walzer übrigens.«
Tanguera. Mein Gott, sie mussten es schon unzählige Male getanzt haben. Giulietta vermochte diesen Tanz nicht wirklich zu beurteilen, aber durch den Vergleich mit Celina und Veronica, die gerade eben noch auf der Bühne gestanden hatten, stach Nieves’ Präzision und Ausdruckskraft auffallend hervor. Und Giulietta erkannte auch sofort, dass es dafür zwei Gründe gab. Einen davon sah sie: Nieves war eine außerordentliche Tänzerin. Den anderen ahnte sie nach dem dritten Takt: sie liebte Damián. Es war so offensichtlich, dass Giulietta am liebsten die Musik abgedreht hätte. Was immer zwischen den beiden gewesen war, für Nieves war überhaupt nichts vorbei. Jede Bewegung ihres Körpers verriet das. Man musste blind sein, um das nicht zu sehen. Giulietta war es kurzzeitig fast übel geworden. Diese Frau würde Damián niemals aufgeben. Wie perfekt sie miteinander aussahen! Nieves war Ende zwanzig. Ihr Körper war makellos. Und welche erotische Ruhe sie ausstrahlte, auch noch bei den kompliziertesten Schrittfolgen. Die Atmosphäre der ganzen Szene hatte ihr zu schaffen gemacht. Die hinreißende Musik, der Anblick des Mannes, der seit einigen Wochen jede Minute in ihrem Kopf und jede Sekunde jeder Minute in ihrem Herzen herumspukte, in den Armen einer Frau, die ihn ebenso sehr lieben musste wie sie selber. Außerdem gehörte sie zu seiner Kultur, kam aus dem gleichen Land, der gleichen Stadt wie er. Sie hätte sich diese Probe niemals anschauen dürfen. Nein, ihre Verliebtheit hatte sie völlig blind für die Realität gemacht. Was sie dort unten sah, brachte sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Er würde nach Argentinien zurückkehren, und Frauen wie Nieves würden sich darum reißen, mit ihm zu tanzen, mit ihm zu arbeiten. Was konnte sie ihm denn schon bieten? Er war von ihr verzaubert gewesen, einige Wochen lang. Aber das würde alles enden, enden müssen.
Hatte sie das alles vergessen? Warum saß sie jetzt überhaupt hier in diesem Flugzeug am Ende der Welt? Nur weil Damián eine unbegreifliche Auseinandersetzung mit ihrem Vater gehabt hatte? Nicht einmal ihr Vater hatte eine Ahnung, was um alles in der Welt Damián von ihm gewollt hatte.
Frag Deinen Vater. Er weiß alles
. Das stand in dieser eilig geschriebenen Notiz. Aber ihr Vater wusste nichts. Überhaupt nichts. Sie hatte ihm nicht geglaubt, war überzeugt, dass ihr Vater ihr etwas verheimlichte, dass zwischen ihm und Damián etwas
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