Drei Minuten mit der Wirklichkeit
eifersüchtig? Wenn ich dich vorher getroffen hätte, hätte es Nieves nie gegeben.«
»Erzähl mir von ihr. Wo habt ihr euch getroffen?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Doch, komm. Ich will es wissen. Wie alt warst du?«
»Siebzehn.«
»Und konntest du schon so gut tanzen wie heute?«
»Nein. Du liebe Zeit. Ich war blutiger Anfänger.«
»Und sie?«
»Sie war schon ziemlich gut.«
»Und wieso hat sie dann mit dir getanzt?«
»Hat sie ja gar nicht. Ich habe ein halbes Jahr gebraucht, bis sie mit mir getanzt hat.«
»Was? Ein halbes Jahr?«
»Ja, klar. Tango ist schwierig.«
»Und was hast du in dem halben Jahr getan? Sie immer wieder gefragt?«
»Was? Nein. Sie wusste gar nicht, dass es mich gibt. Ich habe sie beobachtet.«
»Nur beobachtet?«
»Ja, beobachtet und ihre Schritte geübt.«
»Wieso hast du denn nicht mit ihr geredet, wenn du nicht mit ihr tanzen konntest?«
»Das hat mich nicht interessiert. Sie war für mich die beste Tänzerin. Ich wollte mit ihr tanzen, nicht reden. Es gibt im Tango eine Grundregel. Fordere niemals jemanden auf, der zu weit unter oder über deinem Niveau ist. Ein Porteño hasst nichts mehr, als sich lächerlich zu machen.«
»Was ist ein Porteño?«
»Ein Einwohner von Buenos Aires. Man nennt sie so wegen des Hafens, obwohl kein Mensch jemals an den Hafen geht. Man sieht den Hafen auch überhaupt nicht. Man sieht nicht einmal den Rio de la Plata, wenn man sich nicht anstrengt.«
»Du wolltest mit Nieves tanzen, und dafür hast du ein halbes Jahr geübt. Da hattest du es mit mir ja leichter.«
»Mi amor, Nieves hat mich interessiert. Du hast mich umgehauen. Ich hätte niemals ein halbes Jahr auf dich warten können. Ich wäre verrückt geworden, hätte vor Verzweiflung wegen unerwiderter Liebe einen Rosenbusch aufgegessen und wäre jämmerlich im Tiergarten verendet.«
»Dummkopf.«
»Ich schwöre, Giulietta. Nieves war eine Herausforderung für mich. Ich wollte die beste Frau von Buenos Aires haben. Zum Tanzen. Dann kam eins zum anderen und, na ja, ich habe den Grundfehler begangen, den viele Tanzpaare begehen. Ich war zu jung, konnte nicht widerstehen. Aber jetzt weiß ich das. Im Tango ist alles Maskerade, Ritual, Simulation. Nichts daran ist wirklich echt, kein Gefühl, keine Geste. Das ist das Wundervolle daran, die Freiheit hinter der Maske, hinter dem Spiel. Freiheit gibt es nur in Ritualen. Aber man muss die Regeln beachten. Wer das zu ernst nimmt, der wird furchtbar enttäuscht werden.«
»Sieht sie das auch so?«
»Das ist ihre Sache.«
»Und nach einem halben Jahr hast du Nieves aufgefordert.«
»Nein. Ich habe mich ihr gezeigt.«
»Gezeigt?«
»Wenn du in Buenos Aires in einer Milonga bist …«
»In einer Milonga? Ich dachte, das ist ein Tanz.«
»Ist es auch, ein Vorläufer des Tango. Aber wenn irgendwo ein paar Leute zusammenkommen und Tango tanzen, nennt man das Milonga. In Buenos Aires gibt es davon jeden Abend ein gutes Dutzend. Also, wenn du in so einem Tangolokal bist, ist es natürlich sehr voll. Es wimmelt von Leuten, und außerdem wimmelt es von unausgesprochenen Regeln. Man könnte ein Buch darüber schreiben. Nieves nahm mich natürlich überhaupt nicht wahr.«
»Woher weißt du das?«
»Weil ich sie laufend beobachtet habe und sie mich in sechs Monaten keines Blickes würdigte. Das ist auch verständlich. Die Tanzpaare finden sich über Blicke. Wenn die Musik aussetzt, gehen alle an ihren Platz, und die Suche nach einem Partner für die nächste Runde beginnt. Wenn ich den Blick einer Frau spüre, mit der ich nicht tanzen möchte, dann schaue ich sie einfach nicht an. Dann weiß sie, aha, er will nicht. Umgekehrt natürlich genauso. Stell dir vor, ich wäre über die Tanzfläche zu Nieves gegangen und hätte sie gefragt, ob sie mit mir tanzen will. Sie hätte natürlich abgelehnt, denn ich hätte damit gleich gegen drei oder vier Gesetze auf einmal verstoßen.«
»Das ist ja wirklich kompliziert bei euch. Ein Wunder, dass überhaupt noch jemand zueinander findet.«
»Ich sagte ja, man kann ein Buch darüber schreiben. Aber das Ganze hat durchaus einen Sinn. Dadurch, dass sie mich nicht anschaut, erspart sie mir die Erniedrigung, mir einen Korb zu holen und dann wie ein getretener Hund an meinen Tisch zurückkehren zu müssen. Alle anderen Frauen würden dann ja auch denken, nun, wenn Nieves nicht mit ihm tanzt, dann will ich ihn eigentlich auch nicht. Unser Blickduell bleibt geheim, unsichtbar, verborgen. Wir sind
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