Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
Vom Netzwerk:
abgeschaltet. Schon nach wenigen Minuten machte sich eine feuchte Wärme in der Kabine breit. Es war der erste spürbare Kontakt mit diesem Kontinent, diese langsam durch den Flugzeugrumpf hindurchsickernde Hitze. Auch die Zeitumstellung machte ihr allmählich zu schaffen. In Europa war es längst Mittag. Ihre Furcht vor der Ungewissheit und vor ihrer Ankunft in der unbekannten Stadt kehrte wieder zurück. Die Flugzeugkabine war das letzte Stück vertrautes Territorium. Die Stewardessen sprachen Deutsch. Das Flugzeug hatte in Zürich auf dem Flughafen gestanden. Es gehörte irgendwie zu ihrer Welt, nach Europa. Sobald sie die Maschine verlassen hätte, wäre sie völlig auf sich gestellt. Die drastischen Schilderungen aus dem Reiseführer waren ihr noch gut in Erinnerung. Diese Hitze! Sie öffnete einen Knopf ihrer Bluse und fächerte sich Luft zu, während sie auf das Rollfeld neben dem Flugzeug hinausschaute. Ein gelber Schmetterling nahm kurz ihre Aufmerksamkeit gefangen.
    Je länger sie über die letzten Wochen nachdachte, desto rätselhafter wurde alles. Am siebten November war nicht nur Nieves angekommen. Der Produzent der Show hatte im letzten Augenblick doch noch zwei Profipaare engagiert. »Er hat eine der Proben gesehen«, erzählte ihr Damián, »und danach Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, die wichtigsten Nebenrollen doch mit Profis zu besetzen. Ich habe ihm das schon vor ein paar Wochen gesagt, aber er wollte nicht. Zu teuer. Jetzt hat er Angst um seinen Namen. Der Unterschied ist einfach zu auffällig.« An Stelle von zwei Profitänzern und fünf Amateurpaaren war das Verhältnis jetzt ausgewogen. Nur Lutz spielte eine Sonderrolle, da er zwar Profi, aber kein eigentlicher Tangotänzer war. Aber die Szene zwischen ihm und Damián war hart an der Grenze zum modernen Tanz, und außerdem trat er danach im Stück nicht mehr auf. Tänzerisch war das Ensemble durch die Änderung nun sehr viel besser geworden, aber die Stimmung während der Proben war katastrophal. Vor dem siebten November herrschte im Theater nervöse Geschäftigkeit. Danach glich es einem Hexenkessel.
    Die übrig gebliebenen sechs Amateure fühlten sich angesichts der eintreffenden Stars nicht gerade besonders wohl in ihrer Haut. Die vier Neuen verhielten sich anfangs noch zurückhaltend, legten jedoch schon bald eine solche Überheblichkeit an den Tag, dass Giulietta sich an eine Bemerkung erinnert fühlte, die sie einmal von Lutz gehört hatte: Wie begeht ein Argentinier Selbstmord? Er steigt auf sein Ego und springt.
    Santiago Herkovits und Fabio Kirkoryan, die beiden stets Kaugummi kauenden Tanzpartner von Celina Iannello und Veronica Olazabal, waren beide nicht sehr groß, hatten Schnurrbärte, einen ersten Bauchansatz und sahen mit ihrem rabenschwarzen, pomadestarrenden Haar wie wohlgenährte Fischotter aus. Sie schienen ständig darüber erstaunt zu sein, dass angesichts ihrer Gegenwart niemand in Ohnmacht fiel oder sonstige Zeichen von Ehrfurcht erkennen ließ. Damián behandelte sie mit ausgesuchter Zuvorkommenheit, doch Giulietta wusste, dass er dies nicht aus innerer Überzeugung tat, sondern weil ihm klar war, dass Santiago und Fabio etwa so duldsam waren wie ein Schwarm ausgehungerter Piranhas. Sie sprachen weder Englisch noch Französisch, bellten hin und wieder Damián auf Spanisch an, wenn ihnen an seiner Regie etwas missfiel, und taten sonst mehr oder weniger das, wofür man sie engagiert hatte. Die meiste Zeit saßen sie in einer Ecke des Theaters, saugten ununterbrochen Mate-Tee aus einem ausgehöhlten Kürbis und betrachteten abschätzig Damiáns Bemühungen, die Gruppenszenen der Amateure zu verbessern. Wenn sie an die Reihe kamen, standen sie auf, schnippten ihre Frauen herbei und erledigten ihre Aufgabe. Damián erklärte ruhig, worauf es ihm ankam, sie probten ein wenig herum, und dann geschah stets ein kleines Wunder. Giulietta hatte es mehrmals gesehen, und jedes Mal war es ihr aufs Neue unbegreiflich. Diese beiden Typen, eine Mischung aus Diego Maradona und einem Metzgergehilfen, verwandelten sich auf der Bühne in tänzerische Naturereignisse. Ihr schmieriges, gockelhaftes Männchengehabe war plötzlich verschwunden und einer Eleganz und Verführungskraft gewichen, die ihr den Atem verschlug. Es war schwer zu glauben, dass es die gleichen Personen sein sollten. Bei den Frauen war es ähnlich, aber auf einer anderen Ebene. Celina und Veronica waren die rothaarige und schwarzhaarige Version des gleichen

Weitere Kostenlose Bücher