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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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vorgefallen sein musste. Ihr Vater war schon immer eifersüchtig gewesen, und bei Damián musste er gespürt haben, dass etwas Besonderes in ihr Leben getreten war, etwas, das stärker war als alles, was sie kannte, auch stärker als ihr Vater. Damián musste einen Grund gehabt haben. Doch wie sah das jetzt aus? War sie einem Phantom hinterhergereist? Einem unberechenbaren, vielleicht verrückten jungen Mann, in dessen attraktives Äußeres sie sich verliebt hatte?

10
    W enn sie es recht bedachte, so hatte ihre glückliche Zeit mit Damián bis zu jenem siebten November gedauert. Sie hatten wundervolle Wochenenden miteinander verbracht, waren stundenlang durch den herbstlich gefärbten Grunewald spaziert, hatten die letzten warmen Sonnenstrahlen am Schlachtensee genossen und einen Ausflug nach Weimar unternommen, einschließlich spätherbstlichem Picknick unterwegs auf einer verlassenen Waldlichtung irgendwo in Brandenburg, an einem Platz, den sie wahrscheinlich heute gar nicht mehr finden würde. Dann hatte sie ihn in Schwanensee mitgenommen. Sie erzählte ihm vorher haarklein die ganze Geschichte, auch die Schritte und Figuren, auf die er achten sollte, aber Damiáns Interesse an Ivanovs genialen sechzehn diagonalen
Pas de chat
und zweiunddreißig
Grands fouettés
stand offensichtlich in keinem Verhältnis zur Faszination, die Giulietta auf ihn hatte. Vor lauter Verliebtheit hatte er den ganzen Abend nur immer wieder sie angeschaut. Ihre Hände lagen ineinander verkrallt, Giulietta versuchte, sich auf das Stück zu konzentrieren, doch immer wenn sie sich Damián zuwandte, um ihm eine Erklärung zuzuflüstern oder ihn auf etwas aufmerksam zu machen, das er nicht bemerkt haben konnte, begegnete sie seinen Augen, die auf ihr ruhten wie auf einem kostbaren Schatz.
    In der Pause gingen sie hinter die Bühne, und sie zeigte ihm die Kulisse. Einige Tänzer waren sauer auf den Stardirigenten. »Von mir aus ist er ein Genie«, sagte jemand, »aber Schwanensee kann er nicht dirigieren. Für die Soli ist er zu langsam und für das Corps verdammt noch mal zu schnell.«
    Dann hielten sie es nicht mehr aus, verließen vorzeitig die Oper und fuhren nach Hause. Giulietta verteilte drei Dutzend Teelichte im Raum, während Damián sie ungeduldig verfolgte und dabei langsam entkleidete. Dann legte sie die Musik von Tschaikowsky auf, und sie liebten sich zum zweiten Akt. Danach hatte er sie gebeten, ihm einige Figuren vorzutanzen, und sie deutete einige Passagen aus der Gruppe der Schwäne an.
    »Jetzt du«, sagte sie dann, »zeig mir einen Tangoschritt.«
    Er hatte sich erhoben, ging auf sie zu, wie sie dort nackt im Raum stand, nahm ihre beiden Hände und zeigte ihr die acht Grundschritte. Sie liefen die Sequenz mehrmals hintereinander durch, bis sie sie beherrschte. Dann befahl er ihr, die Augen zu schließen und sich vorzustellen, ihre Füße seien mit dem Boden verwachsen, der Boden sei ein Magnet und ihre Füße aus Eisen. Ihre Knie und Oberschenkel seien fest geschlossen, als müsse sie eine Hand abwehren, die nach ihrem Schoß greift, nach ihrem Geschlecht, das zugleich herausfordernd und verborgen in ihrem Becken ruhen solle, darüber ihr Oberkörper aufrecht und ruhig, ihre Brüste stolz betont und zugleich ihr ganzes Wesen ihm zugewandt, ihm, dem Mann, dem sie sich jetzt halb widerstrebend für diesen Tanz anvertraut. Sie möge den ganzen Genuss, eine Frau zu sein, in sich spüren und für fünf Minuten mit ihm auskosten. Denn Tango sei nichts anderes als der Versuch eines Mannes, eine Frau so schön wie nur möglich aussehen zu lassen, wieder und wieder an der Vollkommenheit ihrer Form entlangzugleiten, sie zu entzünden, sie leuchten zu lassen. Tango wurde von Männern geschaffen, um die Frau zu feiern.
    Konnte er ihr übel nehmen, dass sie an diesen Satz dachte, wenn er mit Nieves probte?
    »Verstehst du das nicht?«
    »Nein.«
    »Mein Gott. Du warst fünf Jahre mit ihr zusammen. Ich meine, wir kennen uns sechs Wochen.«
    »Wir kennen uns sechs Wochen, und Nieves und ich sind seit über sechzig Wochen getrennt.«
    »Sieht sie das auch so?«
    »Mi amor, wir sind Tanzpartner. Das Private ist vorbei. Bis vor einer Woche war sie in Brasilien und hat mit einem ihrer Schüler herumgemacht. Wir sind komplett getrennt.«
    »Ich mag es nicht, wenn du so redest.«
    »Tut mir Leid. Warum sind Frauen nur immer auf die Vergangenheit eifersüchtig?«
    »Ich bin nicht
Frauen
. Ich bin ich.«
    »Warum bist du auf die Vergangenheit

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