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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Meister im Verbergen. Um Argentinier zu verstehen, brauchst du nur immer an diese beiden Grundsätze zu denken: sie verbergen alles, was ihrem Ansehen schaden könnte, und tun alles, um nicht lächerlich zu wirken, und dies bis zur Lächerlichkeit. Wenn du mit mir alt werden willst, musst du das wissen, mein Licht, mein Leben, meine Liebe.«
    »Lenke nicht ab. Sag mir doch endlich, wie du Nieves aufgefordert hast.«
    »Ich habe mit Miriam geübt. Ich wusste, dass Nieves oft Miriam zuschaute, denn ich hatte ja Nieves beobachtet. Miriam wiederum tanzte noch nicht sehr gut, war aber sehr talentiert. Ich wusste, wenn ich mit Miriam ein paar interessante Kombinationen einüben würde, dann würde Nieves das auffallen. Also habe ich eine Weile Miriam verfolgt, bin zu Übungsstunden gegangen, wo sie aufzutauchen pflegte. Mit der Zeit freundeten wir uns etwas an, nun ja, es wurde dann kompliziert, denn ich hatte ja Nieves im Auge, und Miriam war nur eine Etappe …«
    »Schuft.«
    »Was heißt hier Schuft. Ich habe Miriam immer mit Respekt und Distanz behandelt.«
    »Mein Gott, ist das kompliziert. Dann weiß man als Frau ja nie, warum ein Mann mit einem tanzen will. Vielleicht will er sich nur mit mir zeigen, um eine andere zu beeindrucken. Das ist ja nicht gerade ein Kompliment.«
    »Die meisten Leute in Buenos Aires sind ausschließlich und nur damit beschäftigt, sich zu zeigen.«
    »Ich dachte, man geht aus Spaß tanzen.«
    »Spaß? Tango? Sag mal, machst du Ballett aus Spaß?«
    »Na ja, Spaß ist nicht das richtige Wort. Aber Tango ist doch nicht Ballett.«
    »Nein. Das stimmt. Im Ballett gibt es Regeln.«
    »Ich dachte, im Tango gibt es so viele Regeln, dass man ein Buch darüber schreiben könnte?«
    »Nein. Das heißt, irgendwie schon. Aber auch wieder nicht. Das ist wirklich schwer zu erklären. Es gibt keine Regeln, aber Codes. Es ist wie im Zauberwald im Märchen. Du kannst durchlaufen und nur den Wald sehen. Dabei machst du eigentlich nichts falsch, und es passiert dir auch nichts. Wenn du aber die Geheimsprache kennst, dann liegt hinter jedem Baum eine Überraschung, eine selbstständige kleine Welt, die du dort nie vermutet hättest. Aber ohne die Geheimsprache kommst du dort nicht hin. Es ist ein Spiel, nichts weiter.«
    Ein Spiel? hatte sie gedacht. Und ich, bin ich auch nur ein Spiel, eine kleine Überraschung auf seinem Weg durch Berlin? Sie hatte ihm dann nur noch halb zugehört, als er begann, über die Europäer und Amerikaner herzuziehen, die scharenweise nach Buenos Aires kamen, um Tango zu tanzen. Damián meinte, sie kämen genau aus diesem Grunde, weil sie die Geheimsprache verlernt hatten, weil die Männer und Frauen vor lauter Gleichberechtigung keinen Raum mehr zum Spielen gelassen hatten. Es sei in Europa unmöglich, zu flirten. Hier würde alles ernst genommen. Bei ihnen sei das umgekehrt. Bei ihnen sei alles Theater. Man wisse nie, woran man sei. Der Präsident ein Autorennfahrer, das ganze Land eine Theaterkulisse. Es sei eigentlich gar kein Land, sondern eine Art besiedeltes Wertpapier, eine postmoderne Kolonie, die in Wirklichkeit dem Internationalen Währungsfonds gehöre, also den Deutschen, Franzosen, Amerikanern und Japanern. Die Argentinier wohnten in ihrem eigenen Land zur Miete, und wenn sie abstimmen dürften, dann allenfalls über die Höhe der Raten.
    Das hatte sie alles nur mit halbem Ohr gehört und auch gar nicht so recht verstanden. Nur das mit der Geheimsprache war ihr in Erinnerung geblieben. Lutz hatte es gesagt. Claudia hatte es gesagt. Und dann hatte sie es auch noch aus seinem eigenen Mund gehört: Damiáns Tangos enthielten Codes. War das Debakel des letzten Aufführungstages auch darauf zurückzuführen? Hatte er kurzerhand beschlossen, eine seiner unverständlichen privaten Tanzchiffren in die Aufführung einzubauen? Sie hatte nach dem Vorfall oft an die Äußerung von Lutz denken müssen. »Damián tanzt manchmal komisches Zeug.« Das mochte ja sein. Aber wie hatte er das in der Abschlussaufführung tun können? Und auch noch im letzten Akt, am Höhepunkt des Stückes? Die Kritiken waren ausgezeichnet gewesen. Es war sogar davon die Rede, das Gastspiel zu verlängern. Die Produktion hätte sich mit Sicherheit noch eine ganze Weile gut verkauft. Im Frühjahr gab es Festivals in Europa. Alles hätte so schön funktionieren können. Das Stück wäre noch eine Weile in Berlin geblieben und dann auf Tournee gegangen. Sie hätten sich nicht trennen müssen, jedenfalls

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