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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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tanzen, und erst jetzt erkannte Giulietta, wie schwierig der einfach erscheinende Schritt offenbar war. Keines der Paare vermochte die Figur zu tanzen.
    »Wie im Ballett«, sagte sie amüsiert. »Sieht einfach aus und ist verdammt schwierig.«
    »Ja«, erwiderte Claudia, »aber vor allem ist es falsch.«
    »Falsch? Wieso falsch.«
    »Na ja. Das sieht man nur, wenn man den Originalschritt kennt. Diese Kreisbewegungen der Schuhspitze auf dem Boden, hast du die gesehen?«
    »Ja, klar.«
    »Diese Figur heißt
Lapiz
. Das ist Spanisch und bedeutet Bleistift, weil man dabei wie mit einem Stift auf den Boden zeichnet. Ein
Lapiz
macht eine Bewegung weich, fließend, fast feminin. Das Letzte, was dieser Daroto war, ist feminin. Im Gegenteil. Sein Stil war präzise, hart und fast militärisch. Er führte alles, die Frau hatte bei ihm keinerlei Entscheidungsfreiheit. Er gab alles vor. Ein richtiger Kerl. Und jetzt kommt Damián daher, nimmt eine seiner berühmtesten Sequenzen, schmuggelt zwei
Lapizes
hinein und endet auf eine Linksdrehung mit
parada
und
sacada
für die Frau.«
    »Sacada …?«, fragte Giulietta verwirrt.
    »Das Ende der Figur, wenn das Paar sich dreht. Normalerweise kommt die Frau in der fünften Position zum Stehen, also mit überkreuzten Beinen vor dem Mann. Das ist der Gipfel ihrer Hilflosigkeit. Sie kommt da nur heraus, wenn der Mann will. Damián bricht die Drehung auf halber Strecke auf, und es ist die Frau, die den Mann stoppt –
parada
 – und dann sein Bein weghebelt –
sacada
. Das vorschießende Bein, das in seinen Tanzraum eindringt, heißt
sacada
. Schau, die beiden dahinten haben es so in etwa hinbekommen.«
    Jetzt sah Giulietta, was Claudia meinte, und die Konsequenz des Schrittes war auch mehr als augenfällig: der Mann verlor das Gleichgewicht, weil er nicht mit der Initiative der Frau gerechnet hatte. Er wäre fast gestürzt.
    »Der ursprüngliche Schritt«, fuhr Claudia fort, »ist schon schwierig genug. Um diese beiden
Lapizes
einzubauen, muss der Mann zweimal kurz gegen den Rhythmus der Frau tanzen. Das ist höllisch schwer, denn der Mann muss sie ja in ihrem Rhythmus führen und gleichzeitig gegen ihren Rhythmus die weichen Brüche einbauen.«
    »Und warum tut Damián das?«
    »Ich weiß es nicht. Manche sagen, nur um zu provozieren. Hier feminisiert er Daroto, ein anderes Mal schockt er das Publikum, indem er als Schwarzer auftritt.«
    »Als Schwarzer?«
    »Ja. Das war auf einer Silvesterparty ’96. Im
Almagro
, das ist ein bekanntes Tanzlokal in Buenos Aires. Es ist üblich, dass die jungen Talente dort eine Kostprobe ihres Könnens geben. Damián war damals noch nicht sehr bekannt, aber es gab schon Gerüchte über ihn. Ich bin damals seinetwegen ins
Almagro
gegangen. Man wusste, dass Hector ihm seit geraumer Zeit Unterricht gab, und das bedeutete, dass er ein großes Talent sein musste. Nieves erschien zuerst und tanzte ein paar Takte allein. Dann kam Damián mit schwarz gefärbtem Gesicht und Perücke. Nach der Darbietung hätte man eine Nadel fallen hören können. Ein paar Leute klatschten, vor allem Touristen. Aber die meisten Gesichter blieben eisig. Ich weiß bis heute nicht, was das sollte, aber es muss irgendeine geheime Bedeutung gehabt haben. Hector verließ das Fest auf der Stelle und hat Damián seither nicht mehr angeschaut. Nieves kochte vor Wut und soll Damián später im Foyer sogar geohrfeigt haben, allerdings hat man mir das nur erzählt.«
    Giulietta blickte wieder in den Saal hinein und musterte Damián, wie er an die Wand gelehnt dastand und die Paare beobachtete. Er kniff die Augen ein wenig zusammen, als versuche er genau zu erfassen, an welcher Stelle die eifrig bemühten Schüler und Schülerinnen hängen blieben. Dann entdeckte er ihr Gesicht hinter der Glasscheibe. Seine Miene hellte sich auf, und er warf ihr einen Kuss zu. Sie erwiderte die Geste. Dann schaute sie wieder Claudia an und zog entschuldigend die Augenbrauen hoch.
    Claudia lächelte. »Lindo«, sagte sie dann.
    Giulietta blickte sie fragend an. Aber Claudia schüttelte den Kopf.
    »Unübersetzbar. Du solltest Tango lernen … und Spanisch.«

9
    D er Aufruf zum Einsteigen riss sie aus ihren diffusen Erinnerungen. Auf dem letzten Stück blieb die Maschine halb leer, und sie war froh, nicht mehr so beengt zu sitzen. Allerdings schien es nun ein Problem mit dem Abflug zu geben, denn nach ein paar Metern auf der Zubringerpiste blieb die Maschine wieder stehen, und die Motoren wurden

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