Drei Minuten mit der Wirklichkeit
nicht über eine solch riesige Entfernung. Doch Damián hatte das Stück an einem einzigen Abend zerstört.
11
D ie Klimaanlage lief endlich wieder, und das Flugzeug setzte sich allmählich in Bewegung, während sie sich das letzte Rätsel der vergangenen Wochen in Erinnerung rief. Die ganze Aufführung war tadellos gelaufen. Bei
Tanguera
war ihr flau geworden. Nicht nur ihrer Eifersucht wegen, sondern weil die Szene sie wirklich ergriffen hatte und das Drama hier seinen schrecklichen Ausgang nahm. Auch das Publikum schien das gespürt zu haben und honorierte die Szene durch eine sekundenlange Stille, bevor stürmischer Applaus losbrach. Als
Escualo
an die Reihe kam, brannte die Luft. Schon der Musik konnte man sich schwer entziehen, aber was die beiden an jenem Abend aufführten, hätte jedem Ballett-Ensemble Ehre gemacht. Das Publikum reagierte auf die teuflisch schwierige Choreografie mit Ovationen für Lutz und Damián.
Giulietta stand neben dem Regiepult auf der Galerie und filmte. Als das Stück sich dem Ende näherte, hatte Charlie ihr ein Zeichen gemacht und irgendein Wort geflüstert, aber sie hatte es nicht verstanden. Sie ging zu ihm hin, um besser hören zu können, was er sagte, verstand jedoch nur: »Programmänderung«. Sie schüttelte verwirrt den Kopf. Er zuckte mit den Schultern und machte ihr ein Zeichen, wieder an die Kamera zurückzukehren. Bevor sie noch richtig begriffen hatte, was das bedeuten sollte, war es auch schon geschehen. Die letzte Szene begann, die Gruppentänzer nahmen ihre Positionen ein. In ihrer Mitte würden Damián und Nieves, alias Julián und Juliana, ihren Wiedersehens- und Abschiedstango tanzen. Ein letztes Mal würden einige Takte aus
Tanguera
an ihr verlorenes Glück erinnern, dann würde er aus dem Saal stürzen, die Gruppe indessen weiter tanzen, Juliana niedergeschlagen ans Fenster gehen und jählings mit einer Geste des Horrors Juliáns Selbstmord mimisch auf die Bühne bringen. Dann würde alles in grellem weißen Licht erstarren, das sofort in tiefes Rot und dann in völlige Dunkelheit umschlagen würde, begleitet von einem einzigen, klagenden Bandoneonlauf.
Doch kaum hatten die Gruppe und die beiden Solisten ihre Position bezogen, erklang plötzlich eine völlig andere Musik. Giulietta schaute erschrocken Charlie an. Aber der starrte wortlos auf die Bühne.
»Falsches Band«, zischte sie.
Aber er reagierte nicht. Sie stürzte zu ihm hin.
»Charlie, das ist die falsche Musik, verdammt noch mal.«
»Ich hab dir doch gesagt, Programmänderung. Ich kann nichts dafür.«
»Wer hat das Programm geändert?«
»Damián.«
»Wann?«
»Heute.«
»Heute? War heute vielleicht eine Probe?«
»Nein.«
»Das darf doch nicht wahr sein. Was sollen die denn jetzt machen?«
»Schau, sie machen etwas.«
Es war gespenstisch. Das gesamte Ensemble verließ die Bühne. Nieves hatte sich aus Damiáns Umarmung gelöst, war einige Schritte zurückgetreten und starrte ihn hasserfüllt an. Die Musik, flüsternde Streicher und ein hart angeschlagener Klavierakkord, wurde plötzlich von einer kräftigen und eindringlichen weiblichen Stimme zerschnitten:
Renaceré en Buenos Aires
… Damián begann zu tanzen. Mit einer katzenhaften Bewegung war er bei Nieves, umfasste ihre Taille, hob behutsam ihren rechten Arm, was sie zunächst willenlos geschehen ließ, und glitt mit ihr in die Musik.
Giulietta hatte fassungslos zugeschaut. Was hatte das alles zu bedeuten?
Auch Nieves schien verwirrt. Jetzt unterbrach sie eine Drehung, die Damián soeben begonnen hatte, durch einen Stopp neben seinem linken Fuß und schaute herausfordernd zu ihm hinauf. Damián glitt zwischen ihre Beine, schnitt einen Haken, schob ihr Bein beiseite und zwang sie durch einen ausladenden Schritt in die fünfte Position, aus der sie nun gegen seinen Willen nicht herauskommen konnte. Damián öffnete die Figur nach links. Nieves hatte keine Wahl und musste folgen. Doch jetzt war sich Giulietta sicher, dass auf dieser Bühne etwas völlig Unvorhergesehenes geschah. Kaum zwei Schritte weiter schnitt Nieves Damián mit einem völlig der Musik zuwider laufenden Stopp erneut den Weg ab, richtete sich auf wie ein zorniger Schwan, drehte blitzschnell, zwang Damián in eine rückwärts gerichtete Bewegung und blockierte ihn. Es war offensichtlich: sie hatte keine Ahnung, was Damián von ihr wollte. Er improvisierte und schien mit ihr einen privaten Streit auszufechten. Dann, allmählich, begann sie, ihm zu gehorchen.
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