Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Lautsprecher.
Dann war Stille.
12
I m Zuschauerraum regte sich nichts. Niemand klatschte. Damián stand allein dort oben und schaute über die Köpfe hinweg zur Galerie hinauf. Hatte er sie angeschaut? Nein. Er war von den Scheinwerfern geblendet. Sein Blick verlor sich im Nichts.
Verhaltener Applaus verdrängte allmählich die peinliche Stille. Damián breitete die Arme aus und verbeugte sich. Aber obwohl der Beifall langsam an Stärke zunahm, erschien kein weiterer Tänzer auf der Bühne. Damián ging nach links, nach rechts, verbeugte sich noch einmal, warf Kusshände ins Publikum und verschwand.
Niemand begriff so recht, warum die anderen Tänzer nicht erscheinen wollten, und so klatschten die Zuschauer nachdrücklicher in die Hände.
»Viva Nieves«, konnte man hier und da hören.
»Bravo, Damián«, schrie jemand anderes.
Aber es gab auch Pfiffe.
Die Bühne blieb leer und verdunkelte sich allmählich. Die Vorhänge glitten aufeinander zu, und an den Tischen begannen die ersten verwunderten Gespräche über dieses eigenartige Finale.
Was dann folgte, war ein Albtraum gewesen. Als Giulietta in den Umkleiden im Kellergeschoss eintraf, standen Fabio und Santiago kurz davor, Damián zusammenzuschlagen. Was gesprochen wurde, verstand sie nicht. Alle schrien auf Spanisch durcheinander, mit Ausnahme von Nieves und Damián, die an den entferntesten Ecken der Garderobe auf den Bänken saßen und sich feindselig anstarrten. Damián schwieg hartnäckig zu den Vorwürfen, spie nur einmal einen kurzen spanischen Satz als Antwort auf die lauter und heftiger werdenden Vorwürfe der argentinischen Tänzer aus. Die Berliner Tänzer ignorierte er völlig, und die meisten von ihnen schwiegen ohnehin betreten oder versuchten, das drohende Handgemenge zwischen Fabio, Santiago und Damián abzuwenden. Nieves’ Gesicht war kreidebleich und wie zu Stein erstarrt. Als Giulietta den Raum betrat, erhob sie sich und ging direkt auf sie zu. Die anderen Anwesenden hielten verwundert inne und schauten auf Nieves. Sie blieb einen halben Schritt vor Giulietta stehen und gab ihr eine schallende Ohrfeige. Giulietta war so überrascht, dass sie mehrere Sekunden lang wie betäubt dastand, während vor ihren Augen endgültig die Hölle losbrach. Damián ging mit einem lautstarken Fluch auf Nieves los, doch Fabio und Lutz fielen über ihn her und hielten ihn fest. Im gleichen Augenblick trat Santiago zwischen Nieves und Damián, um zu verhindern, dass sie ihm die Augen auskratzte, was sicher geschehen wäre, wenn man sie nicht mit aller Gewalt von seinem Gesicht abgehalten hätte. Damián schrie Nieves an, und diese überzog ihn mit Verwünschungen, deren Sinn auch ohne Spanischkenntnisse verständlich waren. Giulietta hatte angewidert auf dem Absatz kehrtgemacht, war noch mit Charlie zusammengestoßen, der mit dem Produzenten im Schlepptau und seine Unschuld beteuernd die Treppe herunterkam, und war aus dem Theater davongelaufen. Ihr Gesicht brannte, ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte nur Hass in sich gespürt. Hass auf diese Frau. Hass auf Damián. Hass auf sich und darauf, dass sie sich so hasste.
Selbst jetzt, wenn sie nur daran zurückdachte, bekam sie Atemnot vor Zorn. Diese dahergelaufene Tango-Schlampe hatte sie geohrfeigt. Vor allen. Damián hatte Nieves erniedrigt, und das Erste, was dieser vulgären Tussi einfiel, war, sie mit hinunterzuziehen in ihre primitive Tangonuttenwelt aus Netzstrümpfen, zu engen BH s, lasziven Ärschen und Weibern, die sich um Männer prügeln. Wenn das der Boden war, auf dem diese argentinische Scheißkultur beruhte, dann konnte sie ihr gestohlen bleiben! Und Damián dazu!
Doch ihre Verbitterung hatte nicht lange angehalten. Damián war wenig später in ihrer Wohnung aufgetaucht. Er war völlig durcheinander, redete wirres Zeug, weinte sogar, klammerte sich richtiggehend an ihr fest, flehte sie an, ihn nicht zu verlassen, ihm keine Fragen über die heutige Aufführung zu stellen. Er habe das tun müssen, und er werde ihr auch erklären, warum, aber nicht jetzt. Er liebe sie, das dürfe sie niemals vergessen, er habe noch nie einen Menschen so sehr geliebt wie sie. Sie möge verlangen, was sie wolle, nur nicht, sie nicht mehr lieben zu dürfen. Er wolle sein Leben mit ihr verbringen, keine Stunde mehr existieren, bis zu seinem letzten Atemzug, ohne zu wissen, dass sie seine Frau sei.
Doch wo war er jetzt? Warum war er gegangen? Was war zwei Tage später geschehen? Schon während er ihr all
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