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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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Jedenfalls hatte Giulietta den Eindruck, als füge sie sich ihm. Oder gehörte das alles zu einem Plan? Würden die anderen Paare gleich wieder kommen? War dieser seltsame Abgang und Nieves’ widerspenstiges Gebaren Teil einer Szenografie, einer Überraschung?
    Einige Takte lang schienen sich die beiden in der ergreifenden Musik eingerichtet zu haben. Und was für eine Musik! Es war gerade so, als singe dort jemand um sein Leben. Trotz, Wut, Hoffnung, Abscheu. Alles war darin enthalten. Giulietta verstand kein Wort des Textes bis auf dieses eine, immer wiederkehrende Wort zu Beginn des Refrains, das wie ein Echo noch jetzt in ihr nachklang:
Renaceré
. Wieder und wieder erklang die eindrucksvolle Stimme der Sängerin aus den Lautsprechern, drängender, fordernder, ungeduldig und siegessicher.
    Die beiden tanzten, und das Ensemble kehrte nicht zurück. Nieves’ und Damiáns Präsenz waren indessen raumgreifend genug. Sie füllten die Bühne auch allein aus. Es war ein Phänomen. Wie konnten zwei Menschen solch einen riesigen Bühnenraum bis zum Bersten füllen? Aber genau das taten sie. Und sie sah auch ein, warum. Nieves war ein Bild von einer Frau, und sie lag in den Armen eines Tänzers, dessen magische, katzenartige Bewegungen keines ihrer Geheimnisse unerwidert ließen. Wieder hatte sie einen Anflug von Neid in sich gespürt und eine kurz aufschäumende Welle von Eifersucht. Doch dann waren ihre Sinne vom schockierenden Fortgang der Aufführung überrollt worden.
    Damián machte plötzlich einen unerwarteten Ausfallschritt, der Nieves beinahe zu Fall gebracht hätte. Geschickt fing er sie auf, schwänzelte fast entschuldigend um sie herum, während sie offensichtlich bemüht war, die Fassung zu bewahren. Und dann geschah das Unbegreifliche: plötzlich lag Nieves am Boden. Mitten in einer komplizierten Drehung hatte Damián sie einfach losgelassen. Giulietta spürte einen bitteren Geschmack im Mund. Charlie sprang von seinem Sitz auf und hielt sich am Geländer der Galerie fest. Doch Damián tanzte einfach weiter.
Renaceré
, sang die Stimme. Nieves kauerte am Boden und rührte sich nicht.
    War ihr Fall Absicht gewesen? Kein Zweifel, die beiden tanzten ein Ballett-Stück, einen modernen Pas de deux. Oder hatte Damián komplett den Verstand verloren? Falls zwischen seinen Bewegungen und der reglos daliegenden Nieves ein choreografischer Zusammenhang bestand, so war dies jedenfalls nicht erkennbar. Aber die beiden schienen dennoch miteinander verbunden zu sein. Damián kam wieder über Nieves zu stehen, zog sie mit einem schnellen Griff auf die Füße und umarmte sie von hinten. Sie riss sich wütend aus seiner Umarmung, wollte zur Seite weglaufen, doch er kam ihr zuvor und stellte sich ihr in den Weg. Selbst wenn das alles improvisiert war, und dessen war sich Giulietta jetzt sicher, so hatte es doch eine gewaltige Ausdruckskraft. Vor allem Nieves’ Bewegungen waren derart aus einem Stück, dass selbst ihre Orientierungslosigkeit angesichts von Damiáns unlesbaren tänzerischen Vorgaben noch elegant wirkte. Damián wollte etwas von ihr, aber sie schien keine Ahnung von seiner Absicht zu haben. Er rannte gegen sie an oder wich ihr aus. Er führte sie erneut in einen Grundschritt, doch kaum folgte sie ihm, brach er auch schon wieder aus, ließ sie stehen, drehte zwei Pirouetten, verfolgte sie erneut, deutete wie zum Hohn einen Tango-Schritt an, brach ihn sofort, erstarrte mit ihr in einer Abschlussfigur, führte sie in die Grundposition, ließ sie stehen und tanzte erneut einige Schritte von ihr weg.
    Einen Augenblick lang hatte Giulietta mit Nieves Mitleid empfunden. Damián war auf offener Bühne durchgedreht und drohte, sie abgrundtief zu blamieren. Mein Gott, wenn ihr das jemals passieren würde. Sie würde sofort die Bühne verlassen. Doch Nieves hatte bis zuletzt versucht, ihm tänzerisch zu folgen, hatte alles getan, um die Situation zu retten. Sie hatte mit ihm reagiert, nicht gegen ihn. Damián hatte ihr das Schlimmste zugemutet, was man sich unter Darstellern antun konnte: vor einem vollen Haus aus der Rolle zu fallen. Wie sehr musste sie ihn lieben, um diese Erniedrigung ertragen und diese Provokation aushalten zu können? Und wie sollte das alles enden? Gleich wäre die Musik vorbei. Da verließ auch Nieves die Bühne. Sie ging aufrecht davon. Damián ließ sie gehen. Dann hob er die Arme und präsentierte sich in voller Größe dem Publikum.
    »Renaceré! Renaceré! Renaceré!!«
, dröhnten die

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