Drei Minuten mit der Wirklichkeit
diese Dinge gesagt hatte, wusste er bereits, dass er sie ohne eine Erklärung in Berlin zurücklassen würde. Was um alles in der Welt war in dieser letzten Woche mit ihm geschehen? Sie musste es herausfinden. Ihre Kehle schnürte sich zusammen beim Gedanken an diese letzte Nacht am Sonntag nach der Aufführung. Am nächsten Morgen hatte sie ihn zum letzten Mal gesehen. Als er ging, hatte er sie nochmals angefleht, ihm zu vertrauen und seine Liebe zu erwidern. Wie sollte sie seine Liebe nicht erwidern? Er war überall, in ihr, um sie herum. Hätte es etwas geändert, wenn sie versucht hätte, ihm dies zu sagen? Aber wie? An jenem Morgen war sie noch immer verstört und unsicher gewesen. Der Zwischenfall des Vorabends hatte sie geschockt. Aber kein Schock der Welt würde jemals ihre Gefühle für ihn ändern. Hätte sie ihm das sagen sollen? Warum hatte sie das nicht getan?
Stattdessen hatten sie sich für Mittwochabend bei ihr verabredet. Ihr Vater rief sie an jenem Montag fünfmal an, deshalb ließ sie ihr Telefon zurück, als sie am Dienstag mit Aria nach Braunschweig fuhr. Seine Fürsorge hatte sich in den letzten Wochen zu einer regelrechten Telefonüberwachung entwickelt. Laufend wollte er wissen, wie es mit den Vorbereitungen für das Vortanzen in der Deutschen Oper stünde. Er war immer so gewesen, hatte sie immer unterstützt. Doch jetzt wurde ihr das zu viel. Er sollte sie ein wenig in Ruhe lassen, aber das vermochte er nicht. Wenn er erfahren hätte, dass sie Aria beim Umzug nach Braunschweig half, wäre er ausgerastet.
Und dann war die Welt aus den Fugen geraten.
Ihr Vater wie eine Geisel gefesselt auf einem Stuhl in ihrer Wohnung.
Ihre Mutter aufgelöst vor Angst und Sorge um ihn.
Damián ohne eine Erklärung verschwunden.
Schließlich auch noch die Polizei in ihrer Wohnung, wildfremde uniformierte Männer mit ernsten Gesichtern, die sie über Damián ausfragen wollten.
Sie biss sich auf die Lippen. Die Turbinen heulten auf, und das Flugzeug gewann an Geschwindigkeit. Sie spürte die Beschleunigungskräfte an ihrem Körper. Eine zweite Chance, betete sie stumm. Bitte, bitte, gib uns eine zweite Chance.
Dann hob die Maschine ab und stieg in den strahlend blauen Himmel hinauf. Giulietta ließ ihren Tisch hochgeklappt, um zu signalisieren, dass sie kein Frühstück wünschte. Sie faltete ihr Kopfkissen doppelt zusammen und legte es unter ihren Kopf. Bald war sie in einen unruhigen Halbschlaf verfallen, der von herabstürzenden Fahrstühlen und leeren Landschaften heimgesucht wurde.
Ihre Gesichtszüge waren ruhig und entspannt. Eine Strähne fiel aus ihrer Stirn über ihre Lippen und bewegte sich leicht im Rhythmus ihres regelmäßigen Atems. Weit unter ihr schimmerte in blassen Farben der fremde Kontinent. Doch sie sah weder die brasilianische Küste noch die grünen Weideflächen Uruguays, und auch nicht das glitzernde Band des Rio de la Plata.
Das erste Mal seit den letzten fünfzehn Stunden schlief Giulietta tief und fest, und so nahm sie auch nicht wahr, als die Maschine den Kurs änderte, die rechte Tragfläche sich sanft zur Seite neigte, der Horizont wegkippte wie eine schlecht befestigte Kulisse und der gewaltige Flugzeugrumpf einen Moment lang erzitterte. Nicht einmal das klopfende Geräusch des herausklappenden Fahrwerks vermochte sie zu wecken.
Der Landeanflug begann.
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2. Teil
¡Loco! ¡Loco! ¡Loco!
¡Loco! ¡Loco! ¡Loco!
cuando anochezca en tu porteña soledad,
por la ribera de tu sábana vendré
con un poema y un trombón a desvelarte el corazón …
Verrückt, verrückt, verrückt,
wenn es Nacht wird in deiner Hafeneinsamkeit
werde ich das Ufer deines Bettlakens hinaufsteigen,
um dir mit einem Gedicht und einer Posaune
das Herz wach zu halten …
Horacio Ferrer
Balada para un Loco
1
S ie fuhr durch eine Geisterstadt.
Je mehr sich der Bus dem Zentrum von Buenos Aires näherte, desto unwirklicher erschien ihr die Szenerie jenseits der getönten Fensterscheiben. Die Straßen waren völlig verlassen. Zehn, vielleicht zwölf Autos hatte sie bisher gezählt, fast ausnahmslos schwarz-gelbe Taxis, die auf der Suche nach Fahrgästen verloren die riesigen Boulevards entlangkrochen. Ein einsamer Jogger schreckte auf dem Gehweg eine Spatzenversammlung auf, die auseinander stob und hinter ihm wieder zur Erde sank. Als sie die Randbezirke auf der hoch gelegten Autobahn durchfuhr, hatte sie erwartet, demnächst in das Menschen- und Verkehrsgewimmel einer Millionenstadt
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