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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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verband sie keine Eindrücke dieser Art.
    Evita. Tango. Maradona.
    Das war auch schon alles, was ihr im ersten Moment zu Argentinien einfiel. Ein bekannter Béjart-Tänzer stammte von hier. Lediglich das Bild dieser Mütter mit weißen Kopftüchern, die auf einem Platz im Kreis gehen, dieses Bild hatte sie bereits einmal wahrgenommen. Sie wusste nicht mehr, wann oder wo. Aber es war eines der Bilder, an die sie sich jetzt erinnerte, ein schemenhaftes Déjà-vu, wie alle Fernseherinnerungen dieser Art.
    Las locas.

7
    A m Ende nahm sie ein Taxi zu dieser Schule. Der Wagen hatte glücklicherweise eine Klimaanlage, und sie war froh, nicht völlig verschwitzt vor diesem Herrn Ortmann zu erscheinen. Wie lange würde es wohl dauern, bis ihre Geschichte von der angeblichen Brieffreundschaft mit Damián sie in ein endloses Lügengebäude verstricken würde? Sie hatte sich überhaupt keine Gedanken mehr über ihre kleine Geschichte gemacht, die sie ihm erzählt hatte. Weder darüber, warum sie überhaupt in Buenos Aires war, noch über ihren Kontakt zu Damián. Bevor sie jedoch lange überlegen konnte, hielt der Wagen vor einem beeindruckenden neoklassizistischen Bau, der sich über einen ganzen Häuserblock erstreckte. Einige Bäume, die davor standen, spendeten wohltuenden Schatten. Offenbar war der Unterricht gerade zu Ende gegangen, denn ein Strom von Schülerinnen und Schülern quoll aus dem Gebäude hervor. Sie war fünf Minuten zu spät. Sie warf nur einen flüchtigen Blick auf die prächtige Fassade und beeilte sich, die Stufen zum Eingang hinaufzugehen. Dann blieb sie aber doch einen Augenblick stehen. Diese Schule hatte eine Eingangshalle, die einem Museum Ehre gemacht hätte. Große Säulen ragten zur Decke empor. Mächtige, von roten Läufern bedeckte Steintreppen führten in die oberen Stockwerke. Bevor Giulietta jedoch noch einen weiteren Schritt in das Gebäude hinein machen konnte, wurde sie von einem Aufseher neben der Eingangshalle zurückgerufen.
    »Aqui no puede entrar.«
    »Sorry?«
    »Aqui no puede entrar«, wiederholte der Mann und schaute sie unfreundlich an. Dann wies er mit dem Finger nach draußen.
    Er saß an einem Holztisch, auf dem einige Kladden herumlagen. In einer Ecke des Tisches klebte eine Telefonliste. Daneben stand ein Telefon.
    Sie trat an den Tisch heran und sagte nur: »Señor Ortmann, por favor?«
    Die Nennung des Namens wirkte. Das Gesicht des Mannes zerfloss augenblicklich zu einem breiten Lächeln, in dem das Bemühen durchschimmerte, seine ruppige Art nachträglich zu dämpfen. Giulietta verstand kein Wort von dem, was er dazu noch erzählte, stellte nur zufrieden fest, dass er eine Nummer wählte und irgendetwas in den Hörer nuschelte.
    Keine zwei Minuten später kam ein großer, hagerer Mann die Treppe herunter. Er fixierte sie aus der Ferne, so dass es ihr nicht möglich war, ihn zu mustern, ohne seinen forschenden Blick mit einem ebensolchen zu erwidern, was unpassend gewirkt hätte. Daher wartete sie, bis er etwas näher herangekommen war, und schaute ihm erst dann erwartungsvoll entgegen.
    Jetzt sah sie, dass der Mann nicht hager, sondern klapperdürr war. Sein Gesicht war eingefallen. Unter der Haut seiner breiten Stirn schlängelten sich deutlich sichtbare Adern. Seine ergrauten Haare waren nachlässig frisiert, was einen Eindruck von Zerstreutheit ergeben hätte, wären da nicht diese blauen Augen gewesen, die fast wie zwei Fremdkörper aus seinem eher matt und enttäuscht wirkenden Gesicht herausstrahlten. Der Gegensatz zwischen der Blutarmut des Gesichts, der dünnen Nase und den schmalen Lippen und der Intensität dieser Augen war regelrecht verstörend. Der Rest der Erscheinung steckte in Hosen, Hemd und Jackett, deren farbliche Zusammenstellung zwischen gewagt und misslungen oszillierte oder vielleicht auch das Ergebnis eines übereilten Aufbruchs zur Arbeit war. Aber weitere Beobachtungen konnte sie sich wohl sparen, da Herr Ortmann zweifellos zu der Sorte Menschen gehörte, deren Äußeres so viel über sie aussagte wie die Schranktür eines Tresors über seinen Inhalt.
    Er überragte sie fast um einen Kopf, als er vor sie hintrat und ihr die Hand entgegenstreckte.
    »Frau Battin? Herzlich willkommen.«
    Ob das so gemeint war, schien ihr fraglich. Jedenfalls lächelte der Mann nicht.
    »Guten Tag.«
    »Gehen wir in mein Büro?«
    Er trat sogleich zur Seite und deutete auf die Treppe.
    »Es ist ziemlich heiß heute, nicht wahr? Haben Sie gut hergefunden?«
    »Ja,

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