Drei Minuten mit der Wirklichkeit
danke. Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie sich für mich Zeit nehmen.«
Jetzt gingen sie nebeneinander auf die Treppe zu. Ein paar Schüler grüßten schüchtern den Lehrer und schielten dann neugierig zu ihr ihn.
»Das Schuljahr ist fast zu Ende. Die Prüfungen sind so gut wie abgeschlossen. Sie haben Glück. In einer Woche hätten Sie hier niemanden mehr angetroffen.«
»Ah«, sagte Giulietta überrascht.
»Das Schuljahr geht hier von Februar bis November. Danach ist es zu heiß zum Lernen. Wie lange bleiben Sie in der Stadt?«
»Nur noch ein paar Tage. Ich fliege am Samstag zurück.«
»Nun, da werden Ihnen die richtig schlimmen Tage ja erspart bleiben. Hier geht es hinauf, bitte.«
Die Pracht der Eingangshalle setzte sich auch im ersten Stock fort. Sie durchquerten einen breiten Gang. Hohe Fenster führten auf zwei Innenhöfe hinaus. Einen davon schmückte ein hübscher Steinbrunnen. Bevor sie die Treppe zum nächsten Stock erreichten, kamen sie an einer Bibliothek vorbei. Giulietta konnte im Vorbeigehen nur einen flüchtigen Blick hineinwerfen, doch was sie dort sah, vergrößerte ihr Erstaunen noch. Die deckenhohen, mit Schnitzereien verzierten Bücherregale und die Schreibtische mit geneigter Schreibfläche und grünen Ledereinlagen hätten besser in ein Klosterseminar oder eine Schlossbibliothek gepasst als in ein Gymnasium. Als sie kurz darauf das Lehrerzimmer betrat, wurde ihr endgültig klar, dass diese Schule etwas Außergewöhnliches sein musste. Das Lehrerzimmer hatte nicht nur die Ausmaße eines Bankettsaals, sondern musste früher auch einmal als solcher gedient haben. Giulietta betrachtete staunend die hohe Stuckdecke und die umlaufende Holzvertäfelung der Wände. Diese schmückten riesige Gemälde, auf denen wilde und bizarre Landschaften dargestellt waren. Ein gewaltiger Tisch mit zwanzig oder dreißig Sesseln beherrschte den Raum. Überall lagen Papiere, Bücher, Fotokopien und sonstige Unterlagen herum. Es gab noch weitere, kleinere Arbeitstische, die allerdings unbesetzt waren. An dem großen Tisch saßen einige Lehrer in ihre Arbeit vertieft. Jedenfalls reagierten sie nicht auf Giuliettas und Herrn Ortmanns Erscheinen. Durch die gegen die Hitze und die Sonneneinstrahlung geschlossenen Fensterläden drang gedämpft Straßenlärm.
Herr Ortmann war Giuliettas Blick auf die Gemälde gefolgt und sagte leise: »Das ist in Patagonien. Eine herrliche Gegend. Fast wie in den Alpen. Und leider fast so weit entfernt. Das heißt, ich übertreibe natürlich.«
Giulietta wusste nicht, was sie erwidern sollte, aber er führte sie bereits durch das Lehrerzimmer hindurch auf einen kleinen Raum zu, bat sie einzutreten, schloss die Tür wieder und signalisierte ihr, auf einem der beiden Sessel Platz zu nehmen. Kaum hatte sie sich gesetzt, bohrten sich wieder diese durchdringenden Augen in sie. Es war nur ein kurzer Moment. War es ihr Äußeres, das diesen Blick verursacht hatte? Aber es war eher so, als suchten die Augen durch ihr Gesicht hindurch in ihr Gehirn zu schauen.
»Leben Sie schon lange in Argentinien?«, fragte Giulietta.
»Ich bin hier geboren. Hat Damián Ihnen das nicht geschrieben?«
»Nein. Er hat nur ein paarmal Ihren Namen erwähnt und dass Sie sein Deutschlehrer seien.«
Er drehte sich um, holte eine Flasche Wasser aus einem kleinen Kühlschrank in der Ecke, nahm zwei Gläser von einem Regal, setzte sich und schenkte die Gläser voll.
»Sie haben sicher auch Durst, nicht wahr?«
»Ja, danke.«
Sie hätte nicht herkommen sollen. Mein Gott, wie peinlich war diese Situation. Der Mann dort hegte aus irgendeinem Grunde Argwohn gegen sie. Sollte sie ihm einfach die Wahrheit sagen? Aber jetzt wurde Herr Ortmann plötzlich etwas gelöster.
»Meine Eltern sind vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs emigriert«, sagte er. »Sie hatten ein Teppichgeschäft in Bottrop. Meine Mutter war Jüdin. Das Konkurrenzgeschäft am Platz gehörte Deutschen. Nach der Reichskristallnacht stand das Geschäft meiner Eltern nicht mehr. Abgebrannt. Immerhin sind sie noch lebend herausgekommen. Aber diese Geschichten kennen Sie ja sicher aus Schulbüchern.«
War da etwas Spott in seiner Stimme?
»Es ist immer etwas anderes, jemandem zuzuhören, der von diesen Vorgängen direkt betroffen war.«
»Da haben Sie Recht. Sie sagten, Sie kommen aus Berlin?«
»Ja.«
»Hat es sich sehr verändert seit dem Mauerfall?«
»Es ist eine ganz andere Stadt geworden.«
»Besser oder schlechter?«
»Das hängt davon
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