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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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ab, wen Sie fragen.«
    »Die Ostdeutschen oder die Westdeutschen?«, fragte er und lächelte zum ersten Mal ein wenig.
    Giulietta nippte an ihrem Wasser und sagte dann: »Nein. Die Pessimisten oder die Optimisten. Und die gibt es überall. Kennen Sie Berlin?«
    »Nur West-Berlin«, erwiderte er, »ich war 1985 das letzte Mal in Deutschland.«
    Er verstummte und richtete wieder diesen irritierenden Blick auf sie. »Aber sagen Sie«, fuhr er dann fort, »was hat Sie nach Buenos Aires verschlagen?«
    Jetzt war es heraus. Sie hatte gewusst, dass diese Frage kommen würde.
    »Eine Meisterklasse«, sagte sie schnell. »Am Teatro Colón. Ich bin Ballett-Tänzerin.«
    Zum ersten Mal im Verlauf dieses Gesprächs fühlte sich Giulietta nicht mehr in der Defensive. Ortmann schien für einen Augenblick regelrecht verblüfft. Dann huschte ein Anflug von Ungläubigkeit durch sein Mienenspiel, bevor sein eigenartiges Gesicht sich wieder verschloss.
    »Sie sind von Berlin nach Buenos Aires geflogen, um Ballett-Unterricht zu nehmen?«
    »Es ist nicht irgendein Unterricht. Kennen Sie sich ein wenig mit Ballett aus?«
    Ortmann schüttelte den Kopf. »Nein. Leider nicht.«
    »Dann wird Ihnen der Name des Lehrers nicht viel sagen. Ich will es mal so ausdrücken: wer das Glück hat, für eine Meisterklasse mit diesem Lehrer zugelassen zu werden, der fliegt zur Not auch von Chicago nach Sydney, um mitmachen zu dürfen. Es war ein Examensgeschenk meiner Eltern. Daher bin ich für zehn Tage hier.«
    Mein Gott, hoffentlich prüfte der Mann das alles nicht nach. Sie musste schnell von diesem Thema wegkommen.
    »Haben Sie Damián eigentlich einmal tanzen sehen?«, fuhr sie fort.
    Es war das zweite Mal, dass der Mann für einen kurzen Augenblick seine Fassung verlor.
    »Tanzen?«, fragte er ungläubig. Sein reservierter, misstrauischer Gesichtsausdruck hatte jetzt blankem Erstaunen Platz gemacht. »Wieso tanzen?«
    »Damián ist doch Tangotänzer«, erwiderte Giulietta ruhig, nicht ohne eine gewisse Genugtuung darüber zu verspüren, den Mann verunsichert zu haben. Sicher, was sie hier tat, war ungehörig. Sie schwindelte ihm etwas vor. Aber dass Damián Tangotänzer war, entsprach der Wahrheit. Wenigstens das war unumstritten. Der Mann vor ihr auf seinem Sessel schien aus allen Wolken zu fallen. Es war also völlig umsonst gewesen, hierher zu kommen. Er wusste überhaupt nichts über Damián, hatte ihn offenbar seit Jahren nicht mehr gesehen und nicht einmal davon gehört, was aus ihm geworden war. Wie sollte er also wissen, wo sie ihn finden könnte. Aber warum hatte er sie dann überhaupt treffen wollen?
    »Wussten Sie das nicht? Das war mit ein Grund, warum ich ihn gerne getroffen hätte«, fuhr sie fort. »Sie wissen also nicht, wo ich ihn erreichen kann?«
    Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein. Das weiß ich nicht.«
    Danach entstand eine unangenehme Pause. Herr Ortmann schien jetzt völlig verwirrt zu sein. Er schaute sie an, als habe sie ihm eine furchtbare Enthüllung gemacht, die er einfach nicht glauben konnte. Die Situation wurde unerträglich. Sie lächelte unsicher, erhob sich und sagte: »Nun denn, das ist schade. Aber trotzdem vielen Dank, dass Sie mich empfangen haben.«
    Er schaute sie schweigend an.
    »Sie haben sicher viel zu tun«, fuhr sie fort, »und ich muss auch bald ins Theater zurück.« Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er stand ebenfalls auf, ging ohne eine Erwiderung an den Schreibtisch, der hinter ihm stand und griff nach einer Akte, die dort auf dem Tisch lag.
    »Ich habe in den alten Unterlagen nachgeschaut und die Adresse seiner Eltern herausgesucht«, sagte er. »Sie können Ihnen bestimmt sagen, wo er sich aufhält. Damiáns Vater ist seit den letzten Wahlen ein sehr beschäftigter Mann, aber bestimmt erreichen Sie seine Mutter. Es sind gebildete Leute. Ich denke, Sie können Englisch mit ihnen sprechen. Hier ist die Adresse.«
    Er löste einen dieser selbstklebenden gelben Zettel vom Aktendeckel ab und reichte ihn ihr. Sie schaute kurz darauf und steckte ihn ein. »Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen.«
    »Keine Ursache«, erwiderte er. »Und entschuldigen Sie, dass ich Sie hierfür extra herkommen ließ, aber Ihr Anliegen war doch etwas ungewöhnlich, daher wollte ich mir zunächst ein Bild von Ihnen machen, bevor ich Ihnen diese Adresse gebe. Ich hoffe, Sie haben dafür Verständnis.«
    »Sicher«, sagte sie, »ich würde genauso handeln.«
    »Wissen Sie, dies ist ein kompliziertes

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