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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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ihre Brüste fiel, eine weite Sommerhose und sportliche Leinenschuhe. Aber ihr Gesicht und ihren Hals konnte sie schlecht verstecken, und ihre Haltung natürlich erst recht nicht. Sie wusste, dass ihre Haltung auf Männer anziehend wirkte. Selbst bevor sie ihr Gesicht sahen, wurden sie auf sie aufmerksam. Und die wenigsten schauten wieder weg.
    Glücklicherweise dauerte die Fahrt nicht lange. Sie beeilte sich, aus dem Untergrund wieder auf die Straße zu kommen, und spazierte in die Altstadt hinein. Die drückende Hitze hatte das Viertel weitgehend leer gefegt. Die wenigen Läden, an denen sie vorüberkam, waren klein und schäbig, die Wohnhäuser heruntergekommen oder eintönig. Überraschend war eine hübsche Kirche, die hinter einem schmiedeeisernen Zaun eine ganze Wohnblockecke schmückte. Dahinter schlossen sich zwei- bis dreistöckige Stadthäuser an, welche früher diesem Viertel vermutlich eine ganz andere Prägung gegeben hatten. Giulietta hielt inne und musterte die verwitterten Fassaden, die hohen Fensterflügel, die schön behauenen Friese unter den abbröckelnden Balkonen und die blinden Stellen der abgefallenen Stuckornamente. Wenn man die richtige Perspektive einnahm, konnte man noch ahnen, wie es hier einmal gewesen sein musste, doch kaum ging man ein paar Schritte weiter, zerstob die hübsche Illusion.
    Kurz bevor sie die Avenida Independencia erreichte, begannen Wandbemalungen ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Sie hatte die Graffiti-Sprüche auf den Mauern zuvor kaum zur Kenntnis genommen, doch jetzt erschienen auf einmal auch Fotos auf den Wänden. Die meisten zeigten Porträtaufnahmen von jungen Mädchen und Männern. Die Aufnahmen erinnerten an Passfotos. Die Dargestellten wirkten alle recht jung. Manche schauten freundlich in die Kamera. Andere blickten teilnahmslos zur Seite weg. Unter den Fotos standen Namen. Auf einem vom Wetter schon ziemlich ausgebleichten Plakat waren Hunderte dieser Fotos so zusammenmontiert, dass der Gesamteindruck einen Totenschädel ergab. Darunter stand in blassroten Lettern: No hay perdón! Giulietta blieb stehen und betrachtete dieses seltsame Plakat. Wer waren diese jungen Menschen? Sie ging näher hin und musterte einige der Gesichter genauer. Die Fotos mussten schon älter sein. Die Haarschnitte, Hemden und Blusen erinnerten ein wenig an die siebziger Jahre. Die jungen Leute sahen aus wie Studenten aus der Zeit der 68er-Bewegung. Rollkragenpullover. Hornbrillen. Pagenkopffrisuren.
    Dieser Stadtteil war ihr ein wenig unheimlich, doch zugleich begann er sie zu faszinieren. Der nächste Straßenabschnitt wirkte noch etwas heruntergekommen, doch allmählich bekam das Viertel etwas Pittoreskes. Die Bebauung wurde zwei- oder dreistöckig. Manche der alten Häuser waren renoviert worden. Kleine Restaurants wechselten mit Antiquitätenläden ab, in deren Schaufenstern sich endgültig bestätigte, woher die verfallende Pracht hier rührte. Die meisten Auslagen sahen aus, als stammten sie von einem havarierten Kreuzfahrtschiff wohlhabender Europäer aus den zwanziger Jahren. Da gab es ein Teeservice, Spazierstöcke mit silbernem Handknauf und sogar einen Dudelsack. Von den Hutschachteln und ledernen Schrankkoffern über Lüster und dunkelbraune Holzski bis zu Hutnadeln und französischen Flacons: jeden Gegenstand umschwebte die Aura der alten Welt.
    Die Straße mündete auf einen hübschen Platz. Die Stühle und Tische der angrenzenden Cafés waren ins Freie geschafft worden. Doch selbst unter schützenden Sonnenschirmen war die Mittagshitze jetzt unerträglich. Die meisten Tische waren verlassen. Plaza Dorrego, las Giulietta auf einem Schild.
    Sie betrat ein Café und bestellte einen Espresso. Die Rückfrage des Kellners verstand sie nicht, daher nickte sie nur zweimal und hoffte, dass sie irgend eine Art von Kaffee bekommen würde. Kurz darauf erschien der Kellner wieder, stellte tatsächlich einen kleinen Kaffee vor sie hin, ging jedoch dann nicht fort, sondern begann, ein ganzes Arsenal von Ergänzungen vor ihr auf dem Tisch abzuladen: zunächst erschien ein kleiner Unterteller mit einem winzigen Croissant und einem Kuchenstückchen in Miniaturausführung, dann ein Gläschen mit Schlagsahne, ein weiteres Gläschen mit Orangensaft, ein drittes Gläschen mit Zahnstochern, ein weißes Porzellankännchen mit aufgeschäumter, heißer Milch, ein Streuer mit Zimt, eine weitere Untertasse mit Zucker und Süßstoff, ein letztes Gläschen mit Wasser sowie zwei sorgfältig

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